«Es gibt jemanden, der es gut meint»

Andreas Neugebauer wohnt in Seftigen
Andreas Neugebauer wurde 1965 als Elfjähriger an eine Bauernfamilie verdingt. Heute sagt der Motivationscoach und Autor: «Wenn ich das überlebt habe, gelingt es auch anderen, Unerträgliches im Leben hinter sich zu lassen.»

Herr Neugebauer, Ihr Leben ist von Krisen gezeichnet, die letzte vor vier Jahren. Was ist passiert?
Andreas Neugebauer:
Mit 56 Jahren habe ich meine Kaderstelle bei der Schweizerischen Post verloren. Ich konnte die neue Richtung nicht mittragen und musste daher nach 33 Jahren gehen. 

Und das zu Beginn der Pandemie… Wie sind Sie damit umgegangen?
Zuerst habe ich meine Leute ermutigt, die aufgrund der Umstrukturierung die Kündigung erhalten hatten. Danach begann ich, mein Leben aufzuschreiben. Ich spürte, dass der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war.

Waren Sie nicht wütend?
Ohne Schläge und Rückschläge, die ich im Laufe meines Lebens einstecken musste, wäre ich heute nicht der, der ich bin. Ich will mit niemandem tauschen. Als katholische Familie besuchten wir früher jeden Sonntag die Messe. Ich spürte immer, dass da eine Hand über mir ist, dass es jemanden gibt, der es gut mit mir meint. 

Wie sind Sie aufgewachsen?
Die ersten Jahre meiner Kindheit waren grossartig. Meine Mutter, ihr damaliger Mann, meine Geschwister und ich kamen viel rum, lebten in der Schweiz, in Paris, Lübeck und in Catania auf Sizilien. Doch dann begann alles aus dem Ruder zu laufen.

Haben Sie Ihren italienischen Vater nie kennengelernt?
Nein. Auch der Ersatzvater verliess die Familie. Alleinerziehend war meine Mutter überfordert. Zwei meiner Brüder wurden in einem Kinderheim untergebracht, ich landete als Elfjähriger auf einem Bauernhof im Emmental. Als die Sozialarbeiterin mich abholte, sagte meine Mutter nur: «Es ist das Beste so.»

Als Verdingkind wurden Sie ausgenutzt…
Zusammen mit weiteren Verdingkindern schuftete ich im Stall und auf dem Feld. Freizeit gab es keine, dafür Schläge für das kleinste Versäumnis. Sieben Jahre musste ich bei den Bauersleuten ausharren. Im Jähzorn prügelte uns die Bäuerin halb tot, danach verkroch sie sich tagelang in ihr Zimmer. Meine Rettung waren meine Schafe, bei denen ich oft übernachtete, um etwas Wärme zu spüren – und ab und zu ein Schluck Schnaps aus dem Fass im Keller.

Neben der körperlichen Misshandlung erlebten Sie auch seelische Demütigung…
Das ist richtig. Einmal teilte mir die Bäuerin mit, dass meine Mutter kommen würde. Ich wartete den ganzen Tag sehnsüchtig und hoffte, sie würde mich mitnehmen. Es stellte sich heraus, dass die Bäuerin den Anruf meiner Mutter vorgetäuscht hatte, um mir den letzten Funken Hoffnung auf Hilfe zu rauben. Danach war ich am Boden zerstört. Ich weiss genau, wie ein Kind sich fühlt, das von niemandem gehört wird und keine Hilfe erfährt.

Hat niemand Ihr Elend bemerkt?
Einmal im Jahr kam der Vormund, um nach dem Rechten zu schauen. In der Stube wurde er jeweils fürstlich bewirtet – keine Chance für mich, ihm zu erzählen, unter welchen Bedingungen ich hier lebte. Auch mein Lehrer hätte das nie vermutet. Die Schule war mein Schutzraum, dort verhielt ich mich unauffällig. Nur unser Posthalter ahnte, was auf dem Hof los war. Er hat mir dann eine Lehrstelle bei der Post vermittelt. Ich fand immer wieder Freunde, die mir beistanden.

Nach der Lehre waren Sie ein freier junger Mann.
Nun verdiente ich Geld und konnte allein wohnen. Ich fand einen meiner Brüder in der psychiatrischen Kinderklinik Bern und besuchte ihn regelmässig. Wir holten unsere Jugend nach, wollten Musiker werden, liessen die Haare wachsen, fingen an zu trinken, stahlen Autos, reisten durch die Welt. Dann tauchten wir eine Weile unter und schliefen auf der Strasse. Damals war ich wütend und rebellisch, riskierte mein Leben, betrachtete es als wertlos.

Sie hatten Ihren Drogenkonsum stets im Griff, standen immer wieder auf. Wie gelang Ihnen dies?
Ich bin ein Mensch, der vorwärtsschaut, kann gut vergeben und trage nichts nach. Als ich einen anderen Bruder schwer drogenabhängig antraf, wusste ich, so will ich nicht enden. Sein Anblick motivierte mich, nie aufzugeben. Später fragte ich mich: «Womit kannst du leben?» Ich erkannte, auch wenn ich nur 70 Prozent meiner Lasten hinter mir lassen kann, komme ich vorwärts. 30 Prozent kann ich tragen. Ich hatte zum Beispiel nicht den Mut, Vater zu werden. Aber wegen sieben schweren Jahren lasse ich mir nicht das ganze Leben verderben!

Sie erlauben sich kein Selbstmitleid?
Nein. Ich bin sicher, diese sieben Jahre kommen nie wieder. Es gibt einen Grund, weshalb ich noch lebe, Gott hat mich nie aus den Augen verloren. Wenn meine Lebenserfahrungen auch nur einer Person dienen, dann hat es sich gelohnt. Das alles macht mich und meine Person aus! In meinen Vorträgen betone ich immer: «Wenn ich das überlebt habe, gelingt es auch anderen, Unerträgliches im Leben hinter sich zu lassen.» 

Heute arbeiten Sie als Motivationscoach und haben Ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben.
Ich besuche häufig Schulklassen und Geschäftsleute und erzähle ihnen meine Geschichte. Es dauerte 19 Jahre, bis ich den Drogen abgesagt, meine Schulden bezahlt, Job und Wohnung gefunden und alle Weiterbildungen absolviert hatte. Zeit spielt keine Rolle – Hauptsache, man bleibt unterwegs.

Ihr Drang nach Freiheit hat Sie stets angetrieben – bis Sie sich übernommen haben…
Ich war im obersten Kader der Post angelangt, glücklich verheiratet, als ich 2010 plötzlich nicht mehr konnte. Ich hatte Herzbeschwerden, zitterte, die linke Körperhälfte funktionierte anders als die rechte, ich torkelte den Wänden entlang. Es wurden alle möglichen medizinischen Untersuchungen vorgenommen, ohne klares Resultat.

Dann bekamen Sie Hilfe von ganz oben.
In meiner Verzweiflung rief ich eines Nachts den lieben Gott an: «Muss ich nun sterben? Berühre mich, Vater im Himmel!» Auf einmal spürte ich eine Hand auf meiner Stirn, mir wurde warm ums Herz und ich empfand eine wunderbare Ruhe. Von diesem Moment an ging es mir besser. Heute kann ich andere Menschen mit meiner Lebensgeschichte ermutigen: «Glaub an dich, auch wenn du ganz unten bist – steh wieder auf!»

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Hope Thun.

Autor: Mirjam Fisch-Köhler
Quelle: Hope Regiozeitungen

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