Long Covid – und wo ist Gott?
«Das ist nur ein bisschen Halsweh, bald bin ich wieder fit!», beruhigt sich Beatrix Welte aus Bertschikon im Zürcher Oberland. Im Oktober 2020 spürt sie ein Kratzen im Hals, ist extrem müde, schläft fast den ganzen Tag. Eine Woche später macht sie den Test; sie ist an Covid erkrankt, muss in Quarantäne. Die 55-Jährige leidet unter Kurzatmigkeit, ist völlig erschöpft. Ein CT zeigt dann auf: Sie hat eine schwere Lungenentzündung.
Trotz Behandlung klingen die Symptome nicht ab. Beklemmende Atemnot hält bis zu drei Stunden an. Die Christin schreit zu Gott um Hilfe: «Er war da, bei mir, sonst hätte ich das nicht durchgestanden.» Fünf Wochen wartet sie auf Symptomfreiheit, die sie aus der Quarantäne entlassen würde. Nicht geschieht. Trotz allem ist sie überzeugt: Ich werde wieder gesund!
«Das bin nicht ich»
Weitere Beschwerden kommen dazu: Muskelkrämpfe, Konzentrations-, Wortfindungs- und Schlafstörungen, Gewichtszunahme, Absacken des Blutdrucks beim Aufstehen, Schwindel, Vergesslichkeit. «Ich kannte mich selbst nicht mehr», erinnert sich die Ehefrau und Mutter eines 18-jährigen Sohns. «Einmal hätte ich am Morgen mein Gesicht beinahe mit Zahnpasta eingecremt, ein anderes Mal schüttete ich die Milch statt in die Kaffeetasse um ein Haar in den Abfalleimer…» Leider wird sie von ärztlicher Seite nicht ernst genommen, ihre Symptome als psychosomatisch eingestuft. «Ich weiss nicht, was sie sich einbilden», reagiert ein Pneumologe, den sie wegen ihrer Atembeschwerden aufsucht.
Die Physiotherapeutin motiviert sie, ihre Muskeln zu trainieren. Nach dem Motto «Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!» lässt sich Beatrix gern darauf ein. Doch als sie mit ihrem Mann einen Spaziergang am Zürichsee macht, bringt sie kaum mehr einen Fuss vor den anderen. Endlich im Auto schläft sie sofort ein. Und verbringt die nächsten zwei Wochen im Bett, ernährt sich liegend von Proteindrinks – es geht gar nichts mehr. Wenn sie sich zu sehr anstrengt, büsst sie dafür mit vermehrten Symptomen. Zweimal bricht ihr System so völlig zusammen – danach geht es ihr schlechter als zuvor, jeder kleine Einsatz erfordert höchste Anstrengung.
Reha in Davos
Im Sommer 2021 soll sie sich in Davos in einer Reha-Klinik erholen. Auch hier nimmt man ihren Zustand nicht ernst. Sie muss den Weg durch die verwinkelten Gänge selbst suchen, vermisst Sitzgelegenheiten. Ohne Ausruhen kann sie nicht eine Viertelstunde unterwegs sein. Ohne zuvor nach ihrem Anliegen zu fragen, will die Psychologin ihre Kindheit aufrollen. Beatrix Welte: «Ich war nicht depressiv, ich brauchte Werkzeuge, um mit meiner Situation umgehen zu können!» Als sie darauf besteht, dass ihre Kurzatmigkeit untersucht wird, entdeckt man schliesslich, dass sich Asthma entwickelt hat. Einziger Lichtblick: Sie lernt Mitpatientin Susanne kennen. Als sie ihr vom Gedankenkarussell erzählt, das nicht zu stoppen ist, betet diese für Beatrix. Und endlich kehrt Ruhe ein in ihre Gedanken. «Seither weiss ich, wie es ist, dem Wahnsinn entgegen zu gehen…»
Gott, was soll das?
Beatrix schüttet ihr Herz vor Gott aus: «Das alles ist einfach sch…» Sie realisiert, dass Jesus ihre Schmerzen sehr genau nachvollziehen kann. Selbst ihr elender Zustand lässt sich nicht mit dem vergleichen, was er am Kreuz durchlitten hat. «Mein Leben war aus den Fugen geraten – nichts ging mehr, ich war immer erschöpft, konnte keine Entscheidungen mehr fällen, musste alle meine Aufträge absagen.» Trotz grosszügigem Entgegenkommen von Auftraggebern muss sie sich eingestehen: Ich bin nicht mehr fähig, meinen Beruf auszuüben. Ich kann keine längeren Spaziergänge mehr machen, nicht mehr Velo oder Ski fahren oder mich in der Gemeinde aktiv einbringen. «Aber ich wusste immer: Ich bin eine Tochter Gottes. Er hat einen Platz bereit für mich – daran halte ich fest, in jeder Situation.»
Umdenken
Sie erlebt: «Jesus ist da, er hält mit mir durch.» Sie lernt, ihren Tag dank vieler Pausen zu überstehen, ihre Kräfte sehr bewusst einzuteilen. «Oft liege ich stundenlang mit Schlafbrille und Ohrenschutz auf dem Sofa, um mich zu erholen.» Gott fordert sie auf, weniger ans «Ich sollte» zu denken, dafür mehr das zu geniessen, was ihr guttut. Dazu gehört nun Luigi, ihr kleiner Hund. «Er bringt wieder Leichtigkeit in unser Familienleben. Mein Mann und unser Sohn mussten viel übernehmen.» Dank dem Maltipoo Luigi – einer Mischung aus Malteser und Pudel – wird sie auf ihren Spazierfahrten per Elektromobil angesprochen. «Jö, isch de herzig!», hört sie oft und kommt so ins Gespräch. Endlich kann sie wieder ein bisschen am Gesellschaftsleben teilnehmen.
Jede Träne wird ein Edelstein
Sie hat viele Tränen vergossen in den vergangenen drei Jahren, hat Trauer, Wut und Frust durchgemacht. Doch Jesus flüsterte ihr zu: «Ich verwandle jede Träne in einen Edelstein.» Zuerst habe sie gemeint, dieser Schatz sei nur für sie gedacht. Doch heute ist Beatrix überzeugt, dass sie ihn teilen soll. Sie will bezeugen, dass Jesus ihr beisteht und sie nicht verzweifeln muss in der Not. «Gott lässt mich nicht fallen.» Sie hat neue Therapeuten gesucht und gefunden. Freunde fahren sie hin. Sie hat sich mit anderen Long Covid-Patienten vernetzt und gemeinsam kämpfen sie dafür, dass der Bund ihr Leiden ernst nimmt und Forschungsgelder spricht. «Die Long-Covid-Erkrankung ist eine 24/7/365- Aufgabe – man darf uns nicht einfach ignorieren!», fordert die schwer Betroffene.
Bei ihr sind weitere chronische Erkrankungen dazu gekommen. Dennoch bezeugt sie: «Gott begegnet mir in meiner tiefsten Verzweiflung, und er tut heute noch Wunder.» Allein, dass sie nicht in tiefe Depressionen versunken ist, sei eines. Dass sie sich darauf beschränken kann, einen Tag nach dem anderen zu leben. Sie hat auf eine Karte geschrieben: «Atmen. Mich festmachen in Gott genügt.» Beatrix vertraut sich Gottes liebevoller Nähe an: «Auch wenn ich nichts spüre – ich weiss, Gott meint es gut mit mir.»
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