Rennrollstuhlfahrer auf dem Weg zum Leben
Thomas Geierspichler (46) ist das, was man einen Ausnahmeathleten nennt. Er ist in seiner Disziplin Weltmeister, vielfacher Weltrekordhalter, Europameister und setzt 2004 und 2008 noch eines drauf mit olympischem Gold in Athen und Peking, ergänzt durch dreimal Silber und viermal Bronze. Gleichzeitig stellt der Sportler mit Blick auf seine Medaillen klar: «Sie sind nicht der grösste Sieg in meinem Leben. Ich würde jede Medaille wieder hergeben, wenn ich wieder gehen könnte.» Der erfolgreiche Sportler sitzt nämlich seit vielen Jahren im Rollstuhl.
Verunglückt
Die Nacht des 4. April 1994 verändert alles im Leben von Thomas. Auf der Heimfahrt von der Disco nickt sein Freund am Steuer kurz ein und fährt in einer Kurve geradeaus gegen eine Mauer. «Nicht in den Rollstuhl!», denkt der damals Siebzehnjährige beim Aufprall noch, doch genau das geschieht. Mit noch nicht einmal 18 Jahren landet er querschnittsgelähmt im Rollstuhl und sieht sich all seiner Zukunftspläne beraubt. Im Interview mit Kimberly Budinsky für das Talkformat RIESENrad erklärt er seine damalige Situation als «hoffnungslose Zeit für mich. War einfach diese verhasste Rollstuhlsituation, dass man nicht mehr gehen konnte, es verändert sich einfach alles. (…) Habe einfach geglaubt, mein Leben ist so nicht lebenswert.»
Im Affenkäfig
«Ich war der Thomas Geierspichler, der Fussball gespielt hat und bei den Mädchen gut ankam», beschreibt er dem Tagesspiegel seine Wahrnehmung, doch diese Person gibt es so nicht mehr. «Ich habe vorher nichts mit Behinderten zu tun gehabt, und dann war ich plötzlich selber einer von denen. Sie waren immer so wie Affen im Käfig, von aussen betrachtet. Man wollte nicht in den Käfig hineingehen, es könnte zu gefährlich sein. Sie waren … das, was man nie selber sein will.» Diese unerträgliche Sichtweise bekämpft Thomas konsequent mit Zigaretten, Alkohol und Drogen. Sein Selbsthass und der auf den Unfallverursacher bringen ihn an den Rand seiner Existenz, doch er will auch nicht mehr leben – nicht so.
Tragender Glaube
Irgendwann laden ihn Freunde zu einer Feier ein, die Christen sind. Sie fragen nach: «Wie geht's dir?» Thomas pendelt zwischen dem ausweichenden «Passt schon» und «Wie soll es mir schon gehen? Scheisse!», aber er realisiert, dass die Frage ernst gemeint ist. Als er zum Abschluss von ihnen eine Bibel geschenkt bekommt, lässt er sich darauf ein und schlägt sie auf. Vor allem, weil er merkt, dass er in der positiven Atmosphäre bei seinem Besuch keinerlei Bedürfnis nach irgendwelchen Drogen verspürt hat. So liest er darin und beginnt zu beten. Er erklärt Gott: «Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann hilf mir dabei, dass ich aufhöre zu rauchen und auch gleich mit dem anderen Zeugs.»
In den folgenden Tagen geht es ihm nicht gut, doch es sind keine Entzugserscheinungen. Im Rückblick erkennt Thomas: «Nein, das ist Energie, die gewartet hat, dass ich sie irgendwo reinlasse, und dann habe ich angefangen in der Bibel zu lesen. Da ist mir dann ein Vers ins Auge gestossen, nämlich: 'Alles ist möglich dem, der da glaubt.' (Markus, Kapitel 9, Vers 23). Da habe ich gemerkt, dass ich die Rollstuhlsituation nicht akzeptieren wollte, und das habe ich mit Drogen bekämpft. Da habe ich gemerkt, dass ich der Realität in die Augen schauen muss.»
Es ist noch ein weiter Weg für Thomas, wieder glücklich zu werden, sich seinem Hass zu stellen und dem Freund zu vergeben, einen Sinn in seinem jetzigen Leben zu finden. Doch der Glaube an Gott wird die treibende Kraft im Leben des Mannes.
Hoffnung, die Kreise zieht
Natürlich war es früher nicht Thomas' Wunschvorstellung, Rennrollstuhlfahrer zu werden, doch «nach dieser Wende in meinem Leben [habe ich] irgendwie so einen Drang nach Bewegung gehabt». Er stösst auf sein jetziges Sportgerät und beginnt zu trainieren. Bald wird er richtig gut. Nach ersten Erfolgen in heimischer Umgebung tritt er auch bei internationalen Rennen bis hin zu den Paralympics an. Als ehemaliger Bauernbub, der kaum über Freilassing hinausgekommen ist, steht er jetzt in einem internationalen Starterfeld in Sydney und kommt schliesslich mit einer Bronzemedaille nach Hause – vier Jahre später in Athen ist es dann Gold.
Thomas fährt von Erfolg zu Erfolg, aber er kämpft auch für grössere Chancengleichheit im Behindertensport, wo oftmals sehr ungleiche Startvoraussetzungen herrschen, weil Paralympics nie die gleiche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie die «normalen» Olympischen Spiele. Er schreibt ein Buch – «Mit Rückgrat zurück ins Leben» –, in dem er seine Geschichte und seinen Weg zum Glauben erzählt. Und immer wieder vermittelt er Menschen Hoffnung, ob die nun behindert sind oder nicht, denn mit einem Blick auf Gott unterstreicht er allen gegenüber: «Schicksal kann man nicht vermeiden, wichtig ist einfach, wie man danach damit umgeht.»
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