«Mein Kind hatte keinen Fürsprecher»
Warum haben Sie vor 27 Jahren eine Abtreibung vornehmen lassen?
Susanne Georgi: Ich hatte gerade unser drittes Kind entbunden und bekam vier Wochen später eine Lungenembolie, an der ich beinah gestorben wäre. Es ging mir nicht gut. Ich war auch psychisch labil und erschöpft. Es war Wendezeit. Mein Mann und ich waren arbeitslos und wussten nicht, was kommt. Es waren sehr schwierige Zeiten. Ich hatte meine neue Ausbildung beinah beendet und habe am Prüfungstag erfahren, dass ich wieder schwanger bin. In der Familie hatte mein Kind keinen Fürsprecher. Alle rieten mir ab, auch wegen des Risikos einer erneuten Lungenembolie. Es war gut gemeint, wenn die anderen sagten: Bekomme dieses Kind nicht, denk doch an deine Kinder! Aber da habe ich so bei mir gedacht: Dieses ist doch auch mein Kind. Was unterscheidet die geborenen Kinder von dem ungeborenen Kind? Auch mein Mann hat gesagt: Das geht eigentlich nicht. Ich konnte ihn verstehen, denn wir wussten wirklich nicht, was wird. Der Druck der Familie war sehr hoch.
War die Kirche damals ein Halt für Sie?
Ich bin nicht auf die Idee gekommen, in der Kirche jemanden zu fragen. Da war ich wohl im Glauben noch zu unerfahren. Ich nehme Kirche auch nicht als einen Ort wahr, wo man mit so einem Problem hingehen würde. Welcher Pfarrer würde das Thema Abtreibung denn zum Beispiel in seiner Predigt aufgreifen? Dabei haben wir als Christen doch gerade für Frauen, die unversöhnt sind mit einer Abtreibung, die Vergebung. Wir können ihnen etwas geben, was über den Tod ihres Kindes hinausgeht. Und wir können den Frauen, die im Konflikt stehen, zusprechen, dass ausser dem Staat und der Familie vor allem Gott da ist, der das Kind liebt. Wir dürfen sie ermutigen, ihr Kind anzunehmen, auch wenn es schwer ist.
Haben Sie sich damals in Ihrer Entscheidung zur Abtreibung als frei erlebt?
Ganz und gar nicht. Ich musste auch zu einem Beratungsgespräch. Alles, was ich davon erinnere, ist die Aussage: «Letztlich ist es völlig egal, was Sie machen, Sie müssen nur mit Ihrer Entscheidung zufrieden sein.» Vielleicht hat mir die Beraterin damals auch alles genau erklärt, das weiss ich nicht mehr. Ich habe das in dem Moment nicht erfassen können. Ich hätte das Kind gern bekommen, aber ich war nicht imstande, klar nachzudenken oder mit jemandem zu diskutieren. Dann habe ich mich einfach treiben lassen von dem, was die Umwelt wollte.
Wie ging es Ihnen nach der Abtreibung?
Die erste Zeit habe ich es verdrängt. Ich hatte die anderen Kinder, war sehr beschäftigt. Aber unterschwellig war es immer da. Die ersten Jahre habe ich immer überlegt, dass es jetzt jeweils ein Jahr jünger wäre als mein Mittlerer. Das hat mich trotz der Verdrängung schon begleitet – dieser Gedanke, ich hätte da jetzt noch eins.
Wann kam das Thema an die Oberfläche?
Einige Jahre später hat unser Pfarrer am Gründonnerstag ein Tischabendmahl vorbereitet und auch Steine auf den Tisch gelegt. Er sagte: «Wenn ihr etwas Schweres auf dem Herzen habt, nehmt den Stein und legt ihn symbolisch für eure Schuld unter das Kreuz. Gebt sie an Gott ab und bittet um Vergebung!» In diesem Moment kam mir der Gedanke an mein ungeborenes Kind. Ich habe bewusst den Stein genommen, ihn für meine Abtreibung unter das Kreuz gelegt und Gott um Vergebung dafür gebeten. Ich weiss, ich habe dort die Vergebung auch erhalten. Und ich dachte: Nun ist es gut. Jetzt kann ich es einsortieren und damit umgehen, wenn ich es schon nicht mehr ändern kann.
Aber dem war nicht so?
Einige Zeit später wurde ich von den Verantwortlichen für die «Schweigemärsche für das Leben» in Annaberg gefragt, ob ich nicht von meiner Abtreibung erzählen könnte. Ich dachte: Gut, ich habe das an Gott abgegeben und traue mir zu, jetzt auch öffentlich darüber zu sprechen. Anschliessend hat mich jemand auf den Film «Der stumme Schrei» aufmerksam gemacht. Als ich mir den angesehen habe, hat es mich wirklich auf die Bretter gelegt. Man sieht darin Ultraschallaufnahmen während einer Abtreibung. Für mich war das bis dahin abstrakt, aber dort habe ich gesehen, was tatsächlich bei diesem Akt passiert. Danach war ich fix und fertig. Bei mir kam also erst die Vergebung durch Gott und danach die Auseinandersetzung damit, was bei der Abtreibung konkret passiert. Das war heftig.
Würden Sie sagen, ohne den Film wären Sie nicht von Schuldgefühlen überwältigt worden?
Bei einer Abtreibung gibt es immer einen Toten. Es stirbt jemand, das löst etwas aus, das geht nicht spurlos an Menschen vorbei. Abtreibung traumatisiert, bewusst oder unterbewusst. Die Tötung eines Kindes im Mutterleib ist für die Frau immer ein Trauma, und das Trauma fliegt einem irgendwann um die Ohren, wenn man sich damit nie auseinandergesetzt hat.
Haben Sie das auch bei anderen Frauen erlebt?
Ich mache regelmässig Gebetsstunden in Pflegeheimen. Die alten Leute wollen spätestens kurz vor dem Tod belastende Dinge aussprechen. Bei den Männern sind das meistens Kriegserlebnisse, über die nie geredet wurde. Bei Frauen sind es oft verlorene Kinder, abgetriebene Kinder. Darüber würden sie nicht in den Familien erzählen, denn das ist stark tabuisiert. Aber einem Aussenstehenden können sie das erzählen. Sie wollen es loswerden, das ist sehr wichtig.
In solchen Situationen ist sicher viel Sensibilität gefragt. Es gibt allerdings die Kritik, dass Lebensrechtler betroffene Frauen anklagen…
Oftmals ist es völlig falsch, wie von Hardlinern mit den Frauen geredet wird. Da sind die Vorwürfe an uns zum Teil berechtigt. Denn die Frauen zu verurteilen, ist falsch. Deswegen wollte ich den Vorsitz beim Lebensrecht Sachsen e. V. machen, weil ich weiss, wovon ich rede. Ich stehe auf einer anderen Ebene. Wenn es um die Frauen geht, die sich in dem Konflikt befinden, kann ich nicht ohne Empathie agieren, um die Frau dort abzuholen, wo sie steht.
Was sagen Sie den Frauen in der Konfliktsituation?
Die meisten Frauen gehen aus sozialen, finanziellen oder partnerschaftlichen Gründen zur Abtreibung. Und da sage ich: Das Kind zu töten, bringt letztlich nicht die Lösung dieser Probleme. Abtreibung löst nie eine Konfliktlage.
Sie haben später noch zwei weitere Kinder bekommen. War der Gedanke an eine Abtreibung in diesen Schwangerschaften ein Thema für Sie?
Auch bei unserem fünften Kind stand Abtreibung im Raum. Trotz einer Hormonspirale bin ich schwanger geworden. Die Ärzte sagten, das könne in einer Fehlgeburt enden oder das Kind könne behindert sein. Mein Mann wollte die Abtreibung. Aber ich habe gesagt: «Nein, ich kann das nicht noch einmal.» Es war sehr schwer für mich, dieses fünfte Kind auszutragen.
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