Gefährdete Freiheit

Eine Sucht kann den Betroffenen schnell unters Wasser ziehen
Christen haben keinen eingebauten Immunschutz – auch sie können abhängig von Suchtmitteln werden. Am Beispiel Alkohol zeichnet Jürgen Naudorff vom Blauen Kreuz das Thema Sucht im Kontext von Bibel und Glauben nach.

Wie heute ist vor 2'000 bis 3'000 Jahren Alkohol, speziell Wein, ein geliebtes und gesellschaftlich geschätztes Genussmittel gewesen, das bei Menschen zum Lebensmittel, zur Lebensmitte werden konnte und sich schliesslich als Suchtmittel entpuppte. Diese seit Jahrtausenden anhaltenden Erfahrungen spiegeln sich auch in den über 200 Erwähnungen von Wein in der Bibel wider. Dabei entsteht ein äusserst differenziertes Bild.

Genuss, Gebrauch und Abhängigkeit

So stellt der Prediger treffend fest: «Ein gutes Essen macht fröhlich, Wein macht lustig, und Geld macht beides möglich!» (Prediger Kapitel 10, Vers 19) Doch der Genuss von Wein birgt Gefahren, wie sie Noah zu spüren bekam, der nach der Sintflut einen Weinberg pflanzte. Als er sich betrunken hatte und nackt in seinem Zelt lag (1. Mose Kapitel 9, Verse 20-21), folgte eine Familientragödie, die schwere Schatten auf die Familie von Noah warf.

Wohin der andauernde Konsum von Alkohol führen kann, zeigt Sprüche Kapitel 23, Verse 29-35 auf. Ein alkoholabhängiger Mensch wird beschrieben, u. a. die Symptome der Alkoholabhängigkeit wie optisch-akustische Wahrnehmungsstörungen beim Prädelirium (Vers 33): «Deine Augen sehen seltsame Dinge, deine Gedanken und Gefühle wirbeln durcheinander.» Der Zwang, weitertrinken zu müssen, liest sich als wörtliches Zitat eines Suchtkranken (Vers 35): «...Wann wache ich endlich aus meinem Rausch auf? Ich brauche wieder ein Glas Wein!»

Wasser zu Wein – Zeichen des Messias

Im Alten Testament wird auf das Kommen des versprochenen Retters mit dieser Einladung hingewiesen: «Der Herr ruft: ‚Ihr habt Durst? Kommt her, hier gibt es Wasser! Auch wer kein Geld hat, kann kommen. Nehmt euch Brot und esst! Hierher! Hier gibt es Wein und Milch. Bedient euch, es kostet nichts!‘» (Jesaja Kapitel 55, Vers 1) Interessanterweise verwandelt Jesus auf der Hochzeitsfeier zu Kana als erstes Zeichen Wasser zu Wein (Johannes Kapitel 2, Verse 1-11). Dieses Zeichen soll auf ihn als Messias hinweisen.

Anklage, Warnung und Enthaltsamkeit

Scharf prangert Jesaja in Kapitel 28, Verse 7-8 die Trinkgelage der religiösen Führer an: «Sogar die Priester und Propheten torkeln. Von Wein und anderen berauschenden Getränken benebelt, können sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Taumelnd und torkelnd empfangen die Propheten ihre Visionen, und die Priester schwanken hin und her, wenn sie Recht sprechen. Die Tische, an denen sie sitzen, sind voll von Erbrochenem, alles ist besudelt.» Paulus warnt gegenüber mehreren Gemeinden, u. a. in Epheser Kapitel  5, Vers 18: «Betrinkt euch nicht; das führt nur zu einem ausschweifenden Leben.» Und zeigt die Alternative: «Lasst euch vielmehr von Gottes Geist erfüllen.»

In den ersten christlichen Gemeinden gab es einen stichhaltigen Grund, keinen Wein zu trinken: die Liebe zu denen, die in ihrem Gewissen durch den Weinkonsum belastet werden. «Deswegen ist es besser, du isst kein Fleisch, trinkst keinen Wein und vermeidest überhaupt alles, was einen anderen Christen zu Fall bringt.» (Römer Kapitel 14, Vers 21) Menschen, die in ihrem Gewissen belastet werden können, waren damals vermutlich alkoholabstinent lebende alkoholkranke Menschen, von denen in 1. Petrus Kapitel 4, Verse 3-4 und in 1. Korinther Kapitel 6, Vers 9 berichtet wird. Frei übersetzt ist zu lesen: «Etliche von euch waren dem Wein ergeben.»

Bedrohte Freiheit des Christenmenschen

Martin Luther, Verfasser der Schrift «Von der Freiheit eines Christenmenschen», soll «Wein, Weib und Gesang» angepriesen haben. Christen waren stets herausgefordert, «in der Freiheit zu bestehen» (vgl. Galater Kapitel 5, Vers 1).

In den vergangenen Jahrhunderten war es schwerer, die Gefahren des Alkoholgebrauchs zu erkennen. Umso erstaunlicher sind die differenzierten Aussagen der Bibel. Schliesslich hat erst 1952 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Alkoholabhängigkeit als Krankheit definiert. Zuvor wusste man nicht, dass es sich um eine psychosomatische Komplexerkrankung handelt, die meist weitreichende soziale Folgen nach sich zieht.

Deshalb haben die von der Liebe zu Gott und ihren Nächsten motivierten Menschen in den Abstinenzverbänden seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts «Trinkern» geholfen und dabei selbst alkoholabstinent gelebt.

Das Kreuz im Blauen Kreuz

Mit vielen Akteuren in der Sucht- und Selbsthilfe verbinden uns angewandte fachliche Standards und eine ressourcenorientierte Sicht auf suchtkranke Menschen. Wir akzeptieren sie so, wie sie sind. Und wir sehen, was aus ihnen werden kann. Menschen, die wieder Verantwortung für sich und andere übernehmen und die in gelingenden Beziehungen leben können. Was uns von anderen Organisationen unterscheiden kann, ist das Angebot des Glaubens. Das steht aber nicht isoliert im Raum. Suchtkranke Menschen und Angehörige müssen sich oft existenziellen Fragen stellen, weil die Not so gross ist. Fragen nach dem Sinn ihres Lebens aufgrund einer stark belasteten Biografie.

Jürgen Paschke, Bundesvorsitzender des Blauen Kreuzes in Deutschland e. V., betont: «Das Kreuz steht wie kein anderes Symbol für den christlichen Glauben. Den bieten wir im Blauen Kreuz als stabilisierende Kraft in und nach einer Lebenskrise. Damit suchtkranke Menschen und ihre Angehörigen neu Hoffnung schöpfen, ein tragendes Lebensfundament finden und eine Orientierungshilfe für ihre Zukunft erhalten.»

Christen haben keinen Immunschutz

«Ein Christ kann nicht süchtig werden!» Dies ist ein Irrtum. Weil Christen wie alle Menschen Fehler begehen und blind sein können für die eigenen Gefährdungen. Das wusste schon David: «Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz! Verstehe mich und begreife, was ich denke! Sieh doch, ob ich auf einem falschen Weg bin, und führe mich auf dem Weg, der Zukunft hat!» (Psalm Kapitel 139, Vers 23f) Doch wie viele suchtgefährdete Menschen hat auch ein suchtgefährdeter Christ kaum mehr die Möglichkeit, so ehrlich zu beten. Weil Alkohol als Suchtmittel bereits sehr wichtig im Leben geworden ist.

Eine generelle Immunität gibt es nicht. Und doch haben gläubige Menschen bessere Chancen, nicht süchtig zu werden. Wenn sie in der Gemeinde gemeinsam ihr Leben reflektieren, über mögliche Gefährdungen sprechen und einander ehrlich sagen, was sie am anderen beobachten. In den Gruppen des Blauen Kreuzes wird versucht, so ehrlich wie möglich miteinander über die Herausforderungen des eigenen Lebens, übers Scheitern und neu wagen zu sprechen.

Heilungen durch den Glauben

Menschen im Blauen Kreuz machen unterschiedliche Erfahrungen auf dem Weg aus der Sucht heraus. Oft ist es ein langer Weg mit einigen Rückschlägen. Nicht wenige berichten allerdings auch von Heilungen, die sich in einer sofortigen Gewissheit ausdrückten, wie bei Frank Uhlig aus Chemnitz: «Ich wusste, ich muss nicht mehr trinken. Das war befreiend!» Voran ging wie bei vielen eine tiefgreifende Glaubenserfahrung, meist ein Hilferuf zu Gott im Gebet. Überraschenderweise berichten diese Menschen selten davon, dass sie danach nochmals rückfällig wurden. Die Abstinenz hat Bestand.

Gesunde suchtkranke Menschen

Gesund und suchtkrank zugleich – wie geht das? Der Stand der Suchtforschung, die noch in den Kinderschuhen steckt, geht davon aus, dass das im Hirnstamm befindliche Suchtgedächtnis nicht gelöscht werden kann. Wer suchtkrank wurde, bleibt suchtkrank. Diese Krankheit kann aber zum Stillstand kommen. Und suchtkranke Menschen können gesunden, seelisch und bezüglich ihrer Beziehungen. In Ehen, Partnerschaften, Familien und in der Beziehung zu Gott. Gottes Angebote von Vergebung, Versöhnung und in Form eines Neuanfangs sind dabei eine enorme Hilfe. Für uns alle!

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Autor: Jürgen Naundorff
Quelle: Magazin Christsein Heute 5/24, SCM Bundes-Verlag

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