«Du bist ein Gott, der mich sieht»

Hagar
Sarah und Hagar werden von Gott gesehen. Er führt die Leihmutter und den Sohn zurück ins Leben. Und erfüllt seine Verheissung an der unfruchtbaren Sarah nach langem Warten wie versprochen. Gott bereitet Wege durch die Wüste, die wir noch nicht sehen.

«Sie haben sich gegenseitig viele Stiche zugefügt – ihre Herzen mögen sich angefühlt haben, als wären es Nadelkissen», so umschreibt Pfarrer Peter Schulthess das Befinden von Sarah und Hagar in einer Predigt. Abrahams Frau zweifelt nach zehn Jahren an der Verheissung Gottes, sie werde einen Sohn gebären. In ihrer Kultur ist Kinderlosigkeit eine Schande. Es könnte auch eine Strafe Gottes sein… Deshalb setzt sie nun ihre Magd Hagar als Leihmutter ein, auch ein übliches Vorgehen in ihrer Zeit. Doch als diese schwanger ist, geschieht etwas Seltsames: Hagar weiss, wie weh es tut, gedemütigt, erniedrigt, gering geschätzt und verachtet zu werden. Sie kennt das. Und trotzdem handelt sie jetzt genau so!

Wie du mir, so ich dir…

Diese Familiengeschichte macht deutlich, wie sich frühe Wunden auswirken können. Hagar behandelt Sarah so, wie sie von ihr behandelt wurde: mit Verachtung. Sie ist nun die Frau, die den ersehnten Stammhalter austrägt! Die beiden Frauen demütigen sich gegenseitig. Was die Situation für die Sklavin zusätzlich verschlimmert: Auch Abraham steht nicht zu ihr. Der Kindsvater schützt sie nicht. Niemand hält zu ihr, sie ist ganz allein. Die Familie sollte ein Ort von Sicherheit und Geborgenheit. Das gilt für Hagar nicht. Sie wird nur benutzt.

Gefährliche Flucht

Schliesslich flieht die Schwangere in Wüste. Das ist brandgefährlich – damit verliert sie jede Sicherheit. Abraham war sehr reich. Auch wenn er Hagar nicht geschützt hat, fehlte es ihr materiell ihr wohl an nichts. Aber was nützt das, wenn das Herz weint? Für einen Moment kann materielle Sicherheit trösten, doch die Sehnsucht, wahrgenommen, gesehen, geachtet zu werden, bleibt.

Doch plötzlich ist er da, der Engel des Herrn. Er fragt: «Woher kommst du? Wohin gehst du?» Hagar redet nicht um den heissen Brei, sondern gesteht sofort: «Ich bin vor meiner Herrin geflohen.» Der Engel hört zu, ohne zu verurteilen. Vor Gott dürfen wir ehrlich sein, zur Wahrheit stehen. Und da können wir erleben: Die Wahrheit kann befreien, entlasten.

Auf die zweite Frage hat Hagar keine Antwort. Sie hat niemanden, der ihr wohlgesinnt ist, der gesehen und wahrgenommen hätte, wie es ihr geht. Niemand, der zu ihr sagt: «Ich vermisse dich.» Sie ist auf sich allein gestellt, hat nur eine Aufgabe: das Kind auszutragen und dann abzugeben. Danach könnte sie der Familie wieder den Dreck machen. Dazu war sie gerade gut genug. Doch jetzt sagt der Engel: «Gott sieht dich, Hagar. Gott hat deinen Hilferuf gehört. Du wirst einen Knaben gebären und sollst ihn Ismael nennen, das bedeutet «Gott hört».

Wahrgenommen ...

Von Menschen erfuhr Hagar keine Wertschätzung. Jedenfalls nicht von ihrer Herrin, Sarah. Die hatte nur Verachtung für sie übrig und erniedrigte sie, wo sie konnte. Doch jetzt erlebt Hagar: Der Himmel sieht mich! Ist das nicht ein zutiefst menschlicher Wunsch? Wir wollen gesehen werden. Das erlebt Hagar nun in der Wüste. Sie wird angesehen und bekommt dadurch Ansehen, Wertschätzung, Achtung, Beachtung und Würde. Damit wird die grösste, tiefste und schmerzhafteste Wunde ihres Herzens heilsam berührt. So werden auch wir angeschaut.

... und frei

Es wird auch angekündigt, dass ihr tiefster Herzenswunsch in Erfüllung gehen wird: die Sehnsucht nach Freiheit. Nicht mehr Sklavin sein zu müssen. Selbst wird sie das zwar nicht mehr erleben, aber ihr Sohn. Er wird frei sein! Darauf deutet die Erklärung des Engels hin – er wird sein wie ein Wildesel. Diese aber sind freie Tiere! Hagar jedoch erlebt jetzt Weihnachten pur. Eine riesige Überraschung, die sie kaum fassen kann. Sie ruft aus: «Habe ich wirklich den gesehen, der mich anschaut?»

Botschaft für alle

Das ist auch die Nachricht an uns: Ich bin gesehen und bekomme so Ansehen! Göttliches Ansehen, göttliche Wertschätzung. In dieser Stimmung geht Hagar zurück ins Haus der Disteln und Dornen, wie es ihr der Engel empfohlen hat. Sie ist gehorsam und bereit, sich zu demütigen. Die Sticheleien von Sarah werden ihr immer noch weh getan haben, aber sie können nicht mehr den innersten Kern ihrer Persönlichkeit verletzen. Denn dort weiss sie: «Ich bin würdig, ich bin genug, ich bin nicht falsch, ich bin angesehen, von Gott angesehen!» Immer wieder werden die Worte des Engels und die Bilder der Erscheinung in ihr aufgeleuchtet und sie gestärkt und getröstet haben.

Die Not der Sarah

Doch auch Sarah wurde von Gott gesehen in ihrer Not. Sie bekam den versprochenen Sohn, Isaak. Aber Frieden gab es zwischen den beiden Frauen nicht. Als Sarah Isaak und Ismael miteinander spielen sah, gab es ihr wieder einen Stich ins Herz. Nein, dieses Sklavenkind sollte nicht mit ihrem Sohn spielen und Miterbe werden! Sie lag Abraham immer wieder in den Ohren: Er solle Hagar fortschicken. Irgendwann tat er es dann, um des lieben Friedens willen und entgegen seiner inneren Überzeugung, wie es in der Bibel ausdrücklich erklärt wird. Aber er wollte nicht immer diesen Ärger, deshalb gab er nach.

Wie es im Hause Abrahams gewesen ist, geht es oft auch heute noch zu. In Familien und auch weltpolitisch. Weil Gott all die Nadelkissenherzen gesehen hat, sandte er seinen Sohn. Weihnachten soll uns sagen: «Ich sehe dich und vermisse dich!» Was für ein Fest wird es sein, wenn wir von ihm unser Ansehen, unsere Würde empfangen und er unsere tiefsten Wunden heilsam berühren darf. Denn wir sind wertgeachtet, geschätzt in den Augen des Allmächtigen, des Schöpfers allen Lebens.

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Autor: Mirjam Fisch-Köhler / Peter Schulthess
Quelle: Livenet

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