Wie christlich ist unser Land?

Gruppe von Menschen, die auf dem Fussgängerweg gehen
Immer wieder werden Statistiken veröffentlich, die vor Augen malen, dass Europa aus christlicher Perspektive auf dem absteigenden Ast ist. Da ist etwas dran, allerdings liegt auch vieles an den Fragestellungen dahinter.

Stellen Sie sich einmal vor, dass Sie morgens aufstehen und routinemässig erst am Apothekerschrank vorbeigehen. Sie ziehen das Fieberthermometer heraus und messen Ihre Temperatur. Sicherheitshalber. Tatsächlich steigt die Marke auf 37,7 Grad Celsius an. «O nein!», ist Ihre Reaktion, «es geht mir schlecht.» Und als zweite Reaktion rufen Sie in Ihrer Firma an und melden sich wegen erhöhter Temperatur krank.

Die allerwenigsten Menschen würden das tun. Wer fragt schon zuerst danach, was die Norm sagt, um anschliessend festzustellen, dass es ihm wohl schlecht gehen müsste, weil man davon abweicht? Nun, die Kirchen und Gemeinden gehen diesen Weg öfter. Anstatt zu schauen, wie es ihnen tatsächlich geht, schauen ihre Leitenden in schöner Regelmässigkeit auf Statistiken und lassen sich dadurch als «krank» einstufen. Viel zu selten fragen sie dabei, was diese Statistiken überhaupt messen und was ihre Ergebnisse bedeuten.

KMU & Co

Natürlich ist das Eingangsbeispiel überspitzt. Das «Fiebermessen» von Kirchen und Gemeinden bildet durchaus echte Schwierigkeiten und auch Stärken ab. In einer KMU – der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die die Landeskirchen in Deutschland alle zehn Jahre durchführen lassen – werden jede Menge interessante Fragen gestellt und beantwortet: zum Vertrauen auf die Kirchen, zur Reformerwartung ihrer Mitglieder und natürlich immer wieder zum Besuch oder gar zum Austritt. Auch sonstige Statistiken zeigen viele kirchliche und gesellschaftliche Situationen schwarz auf weiss, die sonst eher im Bereich der gefühlten Wahrheit blieben. Das Hauptproblem dieser Umfragen ist jedoch nicht der regelmässig wiederkehrende Tenor: «Es geht abwärts!», sondern dass sie vielfach nur institutionalisierte Religiosität abfragen – sie kümmern sich darum, was Menschen von Kirche halten, und weniger, was sie glauben. Damit können sie Christinnen und Christen weiterhelfen, die sehen wollen, wie die gesellschaftliche Wahrnehmung zu einzelnen Fragen gerade ist, sie können aber auch in eine ungesunde Negativspirale hineinführen, die «der Kirche» ihre Zukunftshoffnung abspricht und nimmt.

Grad der «Christlichkeit»

Wie christlich ist die DACH-Region im Europa-Vergleich

Typisch für solche Spannung sind Umfragen wie diese: «Wie christlich ist die DACH-Region im Europa-Vergleich?» Völlig nachvollziehbar besetzen darin Deutschland, Österreich und die Schweiz eine europäische Mittelposition. Mit rund 50 Prozent (Tendenz fallend) identifizieren sich Menschen darin als «christlich», was in der Hauptsache an der Kirchenzugehörigkeit festgemacht wird. Die europäischen Nachbarländer haben hier teilweise ganz andere Ergebnisse. In Polen zum Beispiel bezeichnen sich drei Viertel der Einwohner als christlich.

Was bedeutet das? Sie sind auf jeden Fall eher Mitglied in der (hier: katholischen) Kirche. Haben Polen ein höheres Interesse an Jesus selbst, gelebter Gerechtigkeit, einem Evangelium, das jeden einzelnen Menschen substanziell verändert? Dazu sagen die Zahlen eher nichts aus. Sie messen den Kirchenbesuch, die Mitgliedschaft dort und dass Menschen sagen: «Ich fühle mich hier zugehörig.» Das kann viel mit «Christlichkeit» zu tun haben, muss es aber nicht. Anders als in Deutschland hat man in Polen durchaus gesellschaftliche Nachteile, wenn man kein Kirchenmitglied ist. Es ist klar: Was hier gemessen wird, ist vielschillernd und der Begriff der «Christlichkeit» ist dabei nur teilweise hilfreich.

Geistliche Massstäbe ins Verhältnis setzen

Wo wird noch täglich gebetet

Scheinbar anders sieht es aus, wenn einzelne typisch christliche Tätigkeiten abgefragt werden wie das Gebet. Hier trifft die unerfüllte Sehnsucht vieler ernsthafter Christen auf eine ernüchternde Statistik. Das US-Institut «Pew Research Center» ermittelte in einem weltweiten Vergleich, «wo noch täglich gebetet wird». Auch wieder wenig überraschend findet sich Deutschland hier mit neun Prozent der Bevölkerung am unteren Ende der Skala. Dies ist sicher ein deutlicherer Hinweis auf eine fehlende christliche Grundhaltung als die Kirchenzugehhörigkeit. Allerdings stellen sich auch hier Fragen: Dass in Nigeria 95 Prozent und im Iran 87 Prozent der Menschen täglich beten, macht diese Nationen nicht unbedingt christlicher – offensichtlich geht es in der Umfrage um jedes Gespräch mit jedem Gott. Gleichzeitig sind auch explizit christlich geprägte Nationen wie Brasilien (mit 61 Prozent) und die USA (mit 55 Prozent täglich Betenden) damit nicht automatisch glühende Vorbilder für geistliches Leben. Offensichtlich hilft es wenig, einzelne Aspekte des Glaubenslebens herauszunehmen und sie als nachahmenswert hinzustellen. Das sind sie – keine Frage! –, aber sie sind immer eingebettet in einen Gesamtkontext, der manches wieder relativiert. Nicht ohne Grund werden manche «christlichen» Auswüchse in Brasilien oder den USA hierzulande auch kritisch gesehen.

Abkoppelung der «Nones»

Ein weiteres gesellschaftliches Phänomen hinter all diesen Umfragen ist, dass sie die Lebenswirklichkeit der sogenannten «Nones» kaum widerspiegeln. Diese Menschen, die bei der Frage nach ihrer Religionszugehörigkeit «keine» angeben, sind in Europa die am stärksten wachsende Gruppierung. Haben sie keine guten Werte? Lehnen sie Jesus und seine Lehren ab? Nur sehr selten! In der Regel finden sie keinen Zugang mehr zu herkömmlichen Kirchen und Gemeinden. Sie treten aus der Landeskirche aus, weil es einen Missbrauchsskandal gibt – was kein Vorwurf ist, sondern zeigt, dass sie eine tatsächlich vorhandene Glaubwürdigkeitskrise erkennen. An Freikirchen docken sie allerdings auch nur selten an, die mit ihrem Ansatz einer persönlichen Frömmigkeit auch nicht attraktiver wirken.

Hierin steckt ein wirkliches Zukunftsproblem von Christinnen und Christen in Europa: Wie anschlussfähig sind ihre Formen für Menschen von heute? Statistische Meldungen können bei einem ersten Einsortieren helfen, stossen aber schnell an ihre Grenzen: Ihre Zahlen bilden meist Institutionen ab und richten sich ausserdem immer beschreibend nach rückwärts. Eine Dynamik für morgen entsteht dadurch nicht. Was mehr für geistliche Gesundheit sorgt als morgendliches «Fiebermessen» durch Umfragen ist sicher ein aufbauendes «Sportprogramm» durch hilfreiche Übungen.

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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