Mehr als nur Psychopathen

Was ISIS wirklich will

Der Islamische Staat ist nicht bloss eine Ansammlung von Psychopathen. Es ist eine religiöse Gruppe mit sorgfältig durchdachten Überzeugungen, die sich als Schlüsselagent der kommenden Apokalypse versteht. Zusammenfassung einer Analyse des kanadischen Journalisten Graeme Wood.
IS-Kämpfer

Was ist der Islamische Staat?

Woher kommt er und was sind seine Ziele? Diese einfachen Fragen werden im Westen sehr verschieden beantwortet. Präsident Obama und viele westliche Führer und Intellektuelle beeilen sich, den IS als «unislamisch» und «nicht religiös» zu bezeichnen. Unsere Ignoranz ist verständlich – allzu fremd und unverständlich sind die Schreckensmeldungen, sorgfältig und schock-wirksam medial aufbereitet.

Wir haben den Charakter des Islamischen Staates mindestens auf zweifache Art missverstanden. Er ist etwas ganz anderes als etwa Al-Kaida, und er ist eindeutig religiös motiviert – bis in Details.

Das Kalifat: Nicht Netzwerk, sondern Territorium

Zum einen: wir sehen den Dschihadismus gern als monolithisch (wie übrigens auch den «Islam» als Ganzes). Dabei ist der ISIS eine klare Weiterentwicklung etwa von Al-Kaida. Während Bin Laden ein weltweites Netzwerk von autonomen Zellen aufbaute, errichtet der Islamische Staat ein Territorium, auf dem er herrschen kann. Al-Baghdadi hat ein «Kalifat» aufgebaut, das Bin Laden etwa nicht zu seinen Lebzeiten erwartete.

Die Basis: nicht säkulär, sondern religiös

Zweitens werden wir durch eine wohlgemeinte, aber unehrliche Kampagne in die Irre geführt, die die mittelalterliche religiöse Natur des Islamischen Staates leugnet. Die Tatsache, dass viele Al-Kaida-Terroristen einen westlich-modernen Lebensstil geführt haben, wird auf den ISIS übertragen. In Wirklichkeit erscheint einem vieles, was der ISIS tut, unsinnig - AUSSER im Licht einer sorgfältig geplanten Rückführung der Zivilisation ins siebte Jahrhundert, als Vorbereitung für die Apokalypse. Tatsache ist: der IS ist islamisch, SEHR islamisch. Praktisch jede Entscheidung und jedes ihrer Gesetze – auf Plakaten, Autoschildern oder Münzen etwa – entsprechen bis ins Detail der «prophetischen Methodologie», die den Worten und Taten Mohammeds bis ins kleinste Detail folgen will. Selbst wenn die meisten Muslime solch eine radikal-fundamentalistische Auslegung des Korans ablehnen – die Tatsache bleibt, dass der ISIS eine religiöse Endzeit-Gruppe mit einer klaren Theologie darstellt. Wer das ablehnt, läuft Gefahr, törichten Pseudo-Lösungen zu folgen.

Der «ungläubige» Westen

In Europa sind Jahrhunderte vergangen, seitdem Menschen in grossen Zahlen wegen theologischen Differenzen getötet wurden. Darum ist die Ungläubigkeit Europas verständlich, dass so etwas heute noch – oder heute wieder – möglich ist. Westliche Führer und Intellektuelle glauben, dass, weil religiöse Ideologien in Washington oder Berlin nicht viel zu sagen haben, das auch in Raqqa oder Mossul der Fall sein müsse. Aber wenn ein maskierter Scherge «allahu akbar» sagt, während er einem Abgefallenen den Kopf abschneidet, meint er das genau so: aus religiösen Gründen.

Vier Elemente sind wichtig, wenn man Ideologie und Ziele des IS verstehen will.

1. Hingabe und wörtliches Verständnis

Der Libanese Bernard Haykel, weltweit anerkannter Experte in der Ideologie des IS, hält fest: «Koranzitate sind in den Verlautbarungen des IS allgegenwärtig. Viele wollen dem Islam Absolutismus erteilen und wiederholen eins ums andere das bekannte 'Islam-ist-eine-Religion-des-Friedens'- Mantra. Als wenn es so etwas wie 'den Islam' gäbe! Diese Texte, die der IS benutzt, werden von allen Sunniten geglaubt, und die Auslegung des ISIS hat genauso viel Legitimität wie jede andere.» Und er fährt fort: «Mohammeds Anweisungen kommen klar aus kriegerischen Zeitumständen. Die Kämpfer des ISIS reproduzieren diese Umstände minutiös, einschliesslich Sklaverei, Kreuzigungen und Enthauptungen. Das sind nicht nur die Rosinen, die ein paar verrückte Dschihadisten aus dem Koran rauspicken. Die Kämpfer des ISIS stehen mitten in der mittelalterlichen islamischen Tradition und bringen sie als Gesamtpaket in die moderne Zeit. Sie nehmen die Texte und Anweisungen Mohammeds einfach wörtlich mit einer Verbissenheit, die Moslems normalerweise nicht haben.» Und er schliesst: «Man kann sagen, dass Sklaverei, Kreuzigungen und Enthauptungen nicht für heute sind – aber man kann sie nicht aus dem Koran herausschneiden.»

2. Territorium

Al-Baghdadi ist aus dem Stamm des Propheten und folgt der Pflicht, das Kalifat wiederherzustellen. Damit wird der wahre Islam wiederhergestellt, und Muslime sind aufgefordert, ihm die baya'a, den Treueeid, zu leisten – was nach den Worten des Propheten auch die Seele errettet.

Ein Kalifat braucht Land, sonst ist es hinfällig. Nach der Predigt von IS-Führer Al-Baghdadi im Juli letzten Jahres sind zehntausende ausländischer Muslime in den Islamischen Staat emigriert (wenn auch in den letzten Wochen – nicht zuletzt dank schärferer Passkontrollen des Westens – dieser Zustrom ziemlich nachgelassen hat). Viele kamen zu kämpfen, und viele wollen hier sterben.

Das Kalifat muss die Sharia, das islamische Gesetz, einsetzen. Jede Abweichung davon bringt die Autorität des Kalifen in Gefahr.

3. Die Apokalypse

Hier liegt der deutlichste Unterschied des IS zu anderen dschihadistischen Bewegungen. Während Al-Kaida z.B. vor allem weltliche Ziele hat, wie die Vertreibung aller Nichtmuslime von der arabischen Halbinsel oder die Ausrottung Israels, ist ein Leitmotiv der IS-Ideologie «Das Ende der Tage». Während Bin Laden die Apokalypse kaum erwähnte – und wenn, dann als weit weg liegendes Ereignis – sehen die Väter des IS überall Zeichen der Endzeit.

Die Führer des IS glauben, dass die Armeen von «Rom» sich gegen die Armeen des Islam aufmachen und sie in Nordsyrien angreifen werden. Der Prophet hat verschiedentlich erwähnt, dass sie in der Stadt Dabiq bei Aleppo ihr Lager aufschlagen würden. Darum hat der IS die mit hohem Blutverlust verbundene Eroberung der strategisch eigentlich unbedeutenden Ebene von Dabiq im letzten Jahr laut gefeiert. Und während der Westen sich über die Enthauptung von Peter Kassig entsetzte, ging es für den IS weniger um den Mann als den Ort: «Hier begraben wir den ersten amerikanischen Kreuzfahrer in Dabiq und warten begierig auf den Rest eurer Armeen.»

Der Feind der Schlacht von Dabiq soll «Rom» sein. Da der Papst keine Armee hat, denken Interpreten eher an das Oströmische Reich, dessen Hauptstadt Konstantinopel, das heutige Istanbul, war. Analysten der IS-Ideologie wie der australische Prediger und IS-Anwerber Musa Cerantonio meinen darum, dass das Kalifat Istanbul einnehmen werde. Andere Quellen sehen «Rom» als Symbol für jede Armee von Ungläubigen, für die die Amerikaner und der Westen gut passen.

Wie auch die Auslegung im Einzelnen aussieht – der IS versteht sich als Agent der Apokalypse, der die endzeitlichen Kämpfe geradezu herausfordert.

4. Der ständige Kampf

Während Bin Laden in seinen Aktionen unvorhersehbar blieb, ist eine wichtige Aufgabe des Kalifats der Eroberungskampf, es geht also darum, sein Gebiet auszudehnen. Der Kalif muss mindestens einmal pro Jahr den Dschihad ausrufen und darf nicht ruhen, sonst sündigt er.

Sowohl die Anerkennung von Grenzen wie demokratische Mittel wie etwa Wahlen, geschweige denn ein Sitz in den Vereinten Nationen – wie es etwa die Roten Khmer hatten, die einen Drittel der Bevölkerung von Kambodscha ausrotteten – wäre nach dem Verständnis des IS Shirk oder Polytheismus und damit ideologischer Selbstmord. Das bedeutet, dass das Kalifat zu ständigem Kampf und zu ständiger Feindschaft verdammt ist. Dass andere islamische Organisationen wie die Moslem-Bruderschaft oder gar die Taliban mit anderen Ländern Verhandlungen führten und sogar Botschafter austauschten, ist in den Augen des IS keine Option, sondern bedeutet Abfall.

Ausblick

Die Stärke des Kalifats ist auch seine Schwäche. Ein Netzwerk wie Al-Kaida kann praktisch nicht besiegt werden, ein Kalifat ohne weiteres. Wenn einem Kalifat das Land genommen wird, hört es auf zu existieren, und alle Treueschwüre werden hinfällig. Aber Vorsicht ist geboten. Der IS wartet geradezu auf einen Angriff der Amerikaner – es wäre ein Riesen-Propaganda-Erfolg. Provokative Enthauptungsvideos nennen Präsident Obama mit Namen und lechzen danach, ihn in den Krieg hineinzuziehen. Dschihadisten in der ganzen Welt leben bekanntlich im Weltbild, dass die USA ihr Erzfeind ist, der alle Muslime auf der Welt ausrotten will.

Was kann der Westen also tun? Graeme Wood kommt zum Schluss, dass man den IS «langsam ausbluten» lassen müsse. «Der Islamische Staat wird sich selbst erledigen». Kein Land ist sein Verbündeter, und das wird so bleiben müssen. Das Land, das er kontrolliert, ist weitgehend schwach besiedelt und arm. Krieg führen ist eins, eine funktionierende Infrastruktur für Hunderttausende aufzubauen und am Funktionieren zu erhalten, noch etwas anderes. Mit zunehmendem Niedergang wird das Image des Vorboten der Apokalypse niedergehen und immer schwächer werden. Aber: «Das alles wird nicht über Nacht passieren. Wir müssen mit dem IS noch einige Zeit rechnen.»

Der kanadische Analyst und Journalist Graeme Wood ist mitverantwortlicher Redakteur des Online-Magazins The Atlantic und hat für seine Recherchen Gespräche mit Experten, IS-Sympathisanten und Anwerbern des Islamischen Staates in Australien, dem Libanon, England und den USA geführt.

Zur Webseite:
Originalartikel: What ISIS Really Wants (März 2015)

Zum Thema:
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Datum: 28.03.2015
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / The Atlantic

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