Ein Leitfaden zum guten Handeln?

Die Schönheit der Natur
Hilft uns der Blick in die Natur, in Gottes Schöpfung, um herauszufinden, wie wir uns richtig verhalten sollen? Gibt es bei Jesus eine Art von Schöpfungsordnung, die Bedeutung für unsere Ethik hat?

Auf den ersten Blick finden wir bei Jesus so etwas tatsächlich. Er lädt uns ein, hinzuschauen: «Seht hin auf die Vögel des Himmels! Betrachtet die Lilien des Feldes!» (Matthäus Kapitel 6, Verse 26, 28). Mit anderen Worten: Beobachtet die Schöpfung! Daraus folgt dann eine bestimmte Haltung – ein ethisches Verhalten. Im Kontext der Bergpredigt, speziell von Matthäus Kapitel 6, wäre es dieses Verhalten: Seid frei von Sorgen! Setzt die richtigen Prioritäten – das Leben ist mehr als Essen und Trinken! Macht euch frei für Gottes Reich! Setzt euer Vertrauen auf den Vater im Himmel (Matthäus Kapitel 6, Verse 25.30-34)!

Eigentlich ist der Fall also klar: Die Schöpfung kann ein Leitfaden für unser gutes Handeln sein. Die Schöpfungsordnung ist eine Gabe Gottes an uns, damit wir uns orientieren können.

Bloss: So einfach funktioniert es leider nicht. Es gab immer wieder Menschen, die einen Blick auf die Natur geworfen haben und daraus eine Ethik abgeleitet haben – doch es war eine schreckliche, inhumane, widergöttliche Ethik.

Barbarische Natur-«Ordnungen»

Da ist die Ideologie vom Heldenmenschen, die unter anderem in der Nazizeit stark wirksam war. In der Natur sieht man, dass das Starke sich durchsetzt und das Schwache weggebissen wird. Die Evolution beruht auf dem Überleben des Stärksten. Daraus entstand die Ideologie, dass man heroische Menschen heranbilden müsse und das Schwache, das «lebensunwerte» Leben ausmerzen solle.

Eine ähnlich gelagerte Denkweise hat politische Dimensionen. Der antike Philosoph Kallikles (5. Jahrhundert v. Chr.) lehnte die Demokratie ab, weil die Vorstellung von der Gleichheit aller Bürger «widernatürlich» sei und das natürliche Herrenrecht des Stärkeren und Befähigteren missachte. Entscheidend sind hier die Begriffe «natürlich» und «widernatürlich». Jemand geht hin, nimmt etwas an der Natur wahr, erklärt diese Beobachtung zum Normalfall und diesen Normalfall zum Massstab. Wer da was beobachtet und warum gerade dies dann massgeblich sein soll – das kann sehr willkürlich ausfallen. In der Folge werden bestimmte Menschen an den Rand gedrängt oder wird ihnen noch Schlimmeres angetan. Alles auf der Basis einer vermeintlichen Naturethik.

Unter christlichem Vorzeichen kann es dann die sogenannte Schöpfungsordnung sein. Im Dritten Reich begründeten namhafte Theologen den Führeranspruch Hitlers und die Rassenideologie mit einem zweifelhaften Hinweis auf Schöpfungsordnungen Gottes. Auch der Staat sollte eine solche Schöpfungsordnung sein – damit ist allerdings die Beobachtung an der Natur schon verlassen.

Später waren es Philosophen und Theologen in Südafrika, die die Apartheid mit Verweis auf eine Schöpfungsordnung begründeten. Ebenso berief man sich in den Südstaaten der USA gern auf gottgegebene Naturgesetze, um die Rassentrennung zu legitimieren.

Was man beobachten kann – und was nicht

Ist es also doch nicht so einfach, die Schöpfung als Handbuch zu «lesen»? Gehen wir mit diesen Irritationen zurück zu Jesus. Er ruft zum Vertrauen auf und lenkt dafür unseren Blick auf die Vögel und die Lilien. Schauen wir einmal genau hin. Was ist es im Einzelnen, das wir an der Schöpfung ablesen können? Wir beobachten, dass die Lilien prächtig blühen und die Vögel ihre Nahrung finden. Wir können also sehen, dass sie versorgt sind. Wir sehen aber an der Natur nicht, wer sie versorgt. Jesus verweist auf den himmlischen Vater (Matthäus Kapitel 6, Verse 26,32). Wer dieser Vater ist, was für ein Wesen er hat, ob er gütig oder grausam ist – das lässt sich an der Natur nicht ablesen. Dazu muss man den Vater schon kennen. Im Rahmen der Bergpredigt ist das auch gar kein Problem: Jesus redet Juden an, die durch Heilige Schrift und Überlieferung Kenntnis von Gott haben. Jesus selbst betont mehr noch als die Hebräische Bibel die Vatergüte Gottes (siehe aber auch schon Psalm 103, Vers 13). Und wenn Jesus dann von den «Kleingläubigen» spricht (Vers 30), dann sind die Themen Glauben und Vertrauen genannt. Das Vertrauen zu Gott muss also zur Beobachtung an der Natur hinzukommen. Erst dann finden wir zur richtigen Haltung und zum guten Handeln.

Die Schöpfung und das, was man an Ordnungen in ihr finden will, ist in ethischer Hinsicht selten eindeutig. Man muss den Vater im Himmel kennen, um Massstäbe zu finden. Anders gesagt: Der Leitfaden besteht eher darin, den Schöpfer zu suchen, als die Schöpfung zu beobachten.

Natur-Lektion bei Paulus

Machen wir einmal die Gegenprobe bei Paulus. Auch er lädt an einer bestimmten Stelle ein, von der Natur zu lernen, wie man sich verhalten soll. «Lehrt euch nicht die Natur, dass es für einen Mann eine Schande ist, langes Haar zu tragen, für eine Frau aber langes Haar eine Ehre ist?» (1. Korinther Kapitel 11, Vers 14). Paulus gebraucht hier ein Argument, das damals für die Korinther auf irgendeine Weise plausibel gewesen sein muss. Für die meisten von uns heute ergibt die Beobachtung an der Natur aber kein so eindeutiges Ergebnis. Haare wachsen bei Männern und Frauen ungefähr gleich schnell. Bei Männern fallen sie eher aus, aber der Zusammenhang von Haarlänge und Schande ist für uns nicht naturgegeben. Für Paulus muss wohl noch ein anderes unausgesprochenes Argument mitschwingen. Die Natur selbst ist in ethischer Hinsicht nicht eindeutig.

Jesus schickt uns in die Schrift

Ganz klar wird das, wenn Jesus über eheliche Treue spricht. Dass Mann und Frau einander zugeordnet sind, das ist für ihn vom Schöpfer gesetzt und mit der Schöpfung gegeben (Matthäus Kapitel 19, Verse 3-9). Ehescheidung erschien für den Gesetzgeber Mose manchmal unvermeidlich, doch zum Ursprung der Schöpfung gehörte sie nicht. Wie aber begründet Jesus seine Einsicht? Sagt er – ähnlich wie in der Bergpredigt –: Seht hin auf die Schöpfung; betrachtet die Natur? Nein, bezeichnenderweise sagt er etwas anderes:

«Habt ihr nicht gelesen?» (Vers 4). Jesus verweist nicht auf eine Schöpfungsordnung, sondern auf Schöpfungstexte! Lesen soll man nicht in der Natur, sondern in der Heiligen Schrift. Die vorfindliche und zu beobachtende Schöpfung lehrt uns zum Beispiel nicht zwingend, dass jeder Mensch treu in der Ehe sein soll. Doch darauf kommt es auch gar nicht an. Jesus will, dass wir die Bibel aufschlagen und dort den Leitfaden zum guten Handeln finden. Ganz klar, die Bibel spricht auch vom ursprünglichen Entwurf der Schöpfung, wie sie sein sollte und am besten auch jetzt noch sein soll. Aber ablesbar ist dies eben kaum direkt an der Schöpfung. Ablesbar ist es in der Heiligen Schrift.

Hier lernen wir den Schöpfer kennen – und seine Gedanken über die Ordnung seiner Schöpfungswerke. Hier lernen wir den Vater kennen. Hier begegnen wir Gottes Güte als seiner Grundeigenschaft. Hier lernen wir Vertrauen. Hier können wir auf den Schöpfer hören, auf ihn horchen – und ihm dann gehorchen.

Zum Thema:
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Dossier: Wunder der Schöpfung
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Autor: Dr. Ulrich Wendel
Quelle: Magazin Faszination Bibel Sonderheft 2024, SCM Bundes-Verlag

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