Vergessene erste Schritte der Nachfolge
Die Antwort klingt ein bisschen nach Grimms Märchen, wenn man in Kirchen und Gemeinden nach ihrer Hauskreisarbeit oder den Kleingruppen fragt. Nicht, dass das Erzählte nicht stimmen würde, aber sehr oft heisst es dann «Es war einmal…». In diesen früheren und goldenen Zeiten besuchten die Leute nicht nur den Gottesdienst, sondern trafen sich daneben noch regelmässig in den zahlreichen Hauskreisen der Gemeinde. Damit verkörperten sie das Ideal der Apostelgeschichte, wo schon die Christen in Beröa «das Wort mit aller Bereitwilligkeit auf[nahmen]; und sie forschten täglich in der Schrift, ob es sich so verhalte». Dort fand dann im überschaubaren und persönlichen Rahmen Wachstum im Glauben statt, also das, was viele als «Jüngerschaft» definieren.
Immer mehr stellen allerdings fest, dass dieses jahrelang selbstverständliche Modell nicht mehr so gut funktioniert. Es gibt noch Hauskreise, aber in christlichen Gemeinschaften sind sie selten der Motor des Glaubenswachstums. Sie wurden vom Erfolgs- zum Auslaufmodell. Dabei haben Kleingruppen auch heute noch das Potenzial, Gemeinde zu «rocken» – wenn man sie denn lässt und bereit ist, sie neu zu denken.
Das Ideal steht Kopf
DEN einheitlichen Hauskreis gab es zu keiner Zeit, aber das klassische gemeindliche Vorgehen sah so aus: Otto Normalchrist kommt im Gemeindekontext zum Glauben – ob auf einer Teenagerfreizeit, in einer evangelistischen Veranstaltung oder bei einer anderen Gelegenheit. Als Folge beginnt er, regelmässig den Gottesdienst zu besuchen. Er wünscht sich allerdings irgendwann mehr – grössere Nähe zu Gott, intensivere Gemeinschaft und Wachstum im Glauben. Dafür bietet die Gemeinde Hauskreise an, denen er sich nun anschliesst. Oft entwickelt sich hierbei ein regelrecht familiäres Zusammengehörigkeitsgefühl, viele Hauskreise sind deshalb über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in fast unveränderter Zusammensetzung miteinander unterwegs. Klingt das vertraut?
Trotz vieler guter Erfahrungen damit geht die Zahl von Hauskreisen in Gemeinden inzwischen tendenziell zurück – und das nicht erst seit der Covid-Pandemie. Gemeinden machen die Erfahrung, dass sich die frischgebackenen wie die altgedienten Christen scheinbar weniger für Jüngerschaft interessieren als früher. Jedenfalls – und diese Einschränkung macht einen gewaltigen Unterschied – für eine Jüngerschaft, die sich als «mehr» versteht, als Option, als zusätzlichen Termin in einem Hauskreis.
Jüngerschaft beginnt viel eher
Könnte es sein, dass die eigentliche Reihenfolge dabei in vielen Gemeinden seit Jahren auf dem Kopf stand? Dass es gar nicht darum ging, erst einmal Menschen in die Gemeinde einzuladen, um ihnen anschliessend Hauskreise schmackhaft zu machen? Was einzelne Gemeinden für sich als Erfolgsmodell erlebten («Fast alle unserer Mitglieder sind auch in Hauskreisen organisiert»), ist von aussen betrachtet nicht sonderlich gelungen: Relativ selten lassen sich Menschen, die sich für den Glauben interessieren, in Gottesdienste und ähnliche Veranstaltungen einladen. Es kommen also nicht besonders viele in den Genuss dieser Kleingruppen.
Das mag auch an einem verdrehten Jüngerschaftsverständnis liegen. Bei Jesus jedenfalls war Jüngerschaft keine «Nacharbeit» an Bekehrten, es war ein vertrauensvolles Miteinander mit denjenigen, die sich auf ihn einlassen wollten. Dabei spielte es zunächst keine Rolle, wie «gläubig» sie waren. Seine Jünger rief Jesus vorher zu sich – und gab ihnen sogar schon Aufgaben: «Folgt mir nach, und ich will euch zu Menschenfischern machen!» (Markus, Kapitel 1, Vers 17) Sieben Kapitel später vermutete Petrus: «Du bist der Christus!», aber erst nach Pfingsten ist vom Heiligen Geist und einem erfüllten Leben mit ihm die Rede – da waren die Freunde von Jesus bereits seit drei Jahren mit ihm in einer Kleingruppe unterwegs und mitten in dem Prozess, den wir Jüngerschaft nennen.
Fast immer stossen Menschen zu christlichen Gemeinschaften hinzu und folgen Jesus bereits nach, bevor sie beginnen, ihm ihr Leben anzuvertrauen. Sie probieren es praktisch aus, auf Gott zu hören, und entdecken dabei, dass es sich lohnt, ihm zu vertrauen. Das könnte die zentrale Aufgabe von Kleingruppen in Gemeinden sein: Jüngerschaft, durch die alle gemeinsam lernen, mit Gott zu leben. Selbst diejenigen, die sich in ihrer Beziehung zu Jesus noch gar nicht festgelegt haben. Fromm ausgedrückt folgt hier die Evangelisation der Jüngerschaft. Das wäre ein echter Paradigmenwechsel für viele Kirchen und Gemeinden – und gleichzeitig ein Schritt zurück zu den Wurzeln.
Beziehung hat Vorfahrt
Längst macht ein Slogan in der der Evangelisation die Runde: «Belonging before believing» – erst dazugehören, dann glauben. Es ist nicht verkehrt, die freundlichsten Gemeindemitglieder mit dem breitesten Lächeln an die Tür zu stellen, wenn man Gottesdienst feiert. Es wäre allerdings verkehrt zu meinen, dass Besucher dadurch schneller dazugehören würden. Wer niemanden kennt, wird sich in einer gottesdienstlichen Veranstaltung trotzdem eher schwertun. Ganz anders ist das in einer Kleingruppe, wo man ein oder zwei Besucher kennt – und damit 20 Prozent der Gruppe emotional auf seiner Seite hat. Und wenn sich dann die Gespräche in der Gruppe nicht darum drehen, ob es tatsächlich schon rote Kühe für einen geplanten dritten Tempelbau in Jerusalem gibt oder nicht, sondern sich eher um so banale Fragen dreht wie «Wie lebst du deinen Glauben eigentlich am Arbeitsplatz?», «Was tust du, wenn dein Teenager eigene Wege geht?» oder «Kann mir einer sagen, wie ich ein gesundes Selbstbild entwickeln kann?», dann könnte es sein, dass diese Kleingruppe bald zu einer grösseren Gruppe wird, weil sie Menschen gewinnt. Diese Menschen werden übrigens liebend gern mit anderen im Gespräch bleiben, die im Glauben noch nicht so weit wie sie sind. Ihr Jüngersein werden sie sicher weiterhin in überschaubaren Gruppen leben, doch ihr Weg in die Gemeinde ist jetzt nicht länger schwierig.
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