Die Suche nach der Identität
Ich muss oft über die Ausdrücke «sich selbst finden» und «mein wahres Ich» nachdenken und finde diese Beschäftigung immer zweifelhafter. Ich glaube mittlerweile eher, dass der Mensch aus vielen Facetten zusammengesetzt ist – eine Art Halbfabrikat, das schon einiges in die Welt mitbringt. Und anschliessend durch das, was es erlebt und durchleidet, weiter geprägt wird, sodass es eigentlich aus vielen «Ichs» besteht.
Nicht immer derselbe
Ich kenne einen Mann, der manchmal so ernst ist, dass man es für unter seiner Würde hält, auch kindische Seiten zu haben – aber er hat sie. Er wohnt übrigens in unserem Haus, isst an unserem Tisch, sitzt in meinem Lieblingssessel, spricht meinen Dialekt und ist mir erschreckend ähnlich. Dass man in allen Situationen man selbst ist, bedeutet eben nicht, dass man immer derselbe ist. Das ist einer der Gründe dafür, dass es so spannend ist, ein Mensch zu sein. Und manchmal so verwirrend.
Der bekannte schwedische Schriftsteller Sven Lidman, der in den 1920er Jahren wie ein Bruchpilot, dem das Benzin ausgegangen war, in der christlichen Jahreskonferenz in Kölingared landete, war gelinde gesagt offenherzig, was diesen inneren Kampf betraf. So bezeichnete er sich einmal in einem Interview mit der Zeitschrift Se als jemanden, in dem die Herren Sven Faulpelz, Sven Spieljunge, Sven Feigling und noch diverse andere wohnten. Ich war in den Zwanzigern, als ich dieses Interview zum ersten Mal las, und obwohl ich in Lidmans Sprache förmlich verliebt war, fand ich die Sache echt tragisch und fand, dass er bei seiner Bekehrung doch besser alle unvorteilhaften Nachnamen hätte ablegen und nur «Fromm», «Freundlich» und «Freigebig» hätte behalten sollen. Nun, seitdem sind etliche Jahrzehnte vergangen, und ich habe gelernt, dass man innen drin immer mehr als eine Person ist und dass eine der Herausforderungen des Lebens darin besteht, sich dieser Tatsache zu stellen. Nicht so, dass man allen Personen freie Bahn lässt, sondern so, dass man sie behutsam in die Arme nimmt und dem Konto gutschreibt, dass es gar nicht einfach ist, ein Mensch zu sein.
Verschiedene Arten von «Ich»
«Du bist immer so positiv und fröhlich», sagt man mir manchmal, und das stimmt, aber die Leute, die so reden, haben halt Tomas Überheblich, Tomas Ruhelos und Tomas Sauertopf noch nicht kennengelernt – die Tomasse, die sich zeigen, wenn ich zu müde oder deprimiert bin, um freundlich zu sein.
Früher dachte ich manchmal, dass diese Wechselhaftigkeit ein Zeichen mangelnder innerer Reife sei, aber wenn ich ehrlich bin, ist mir noch nie ein Mensch begegnet, der in allen Bereichen seines Lebens reif ist. Und wäre es nicht schier unerträglich, so einen Menschen in seiner Nähe zu haben? Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass die realistischste Art, mit seinen Schattenseiten umzugehen, nicht darin besteht, hartnäckig zu sagen: «Das hier bin ja gar nicht ich», sondern Ruhe zu finden in dem realistischeren Satz: «Das hier bin ich auch.» Und zu erkennen, dass der Gott des Lebens all diese Ichs mit jener behutsamen Liebe annimmt, die versteht und verändert.
Keine Heiligen
Eines der grossen Dinge des Christseins ist, dass unsere Identität tiefer verankert ist als in uns selbst. Sie liegt geborgen und beschützt im Herzen von Jesus, der uns und unseren Kampf mit einem Blick anschaut, der uns sammelt, wo wir zu zersplittern drohen. Wenn wir unsere Augen und Gedanken auf ihn richten, müssen wir uns nicht mehr von den Idealen ummodeln lassen, die uns umgeben und die ständig wechseln. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass es schmerzlich und deprimierend sein kann, sich selbst zu bewerten. Aber wir sind nicht unsere Schwächen und Sünden. Wir sind Gottes Kinder; das ist unsere wahre Identität. Noch nicht einmal die Menschen, die Jesus am nächsten waren, waren «Heilige». Petrus hatte Angst und Jakobus war ein Hitzkopf. Es wäre unrealistisch, zu erwarten, dass alle diese Eigenschaften sich durch die Begegnung mit Jesus in nichts auflösen. Die Realität ist anders. Und grösser. In Christus hat alles Platz. Aber es gibt auch eine Entwicklung; mit der Zeit wurden die Jünger Jesus ähnlicher.
Zwei Wege
Sich in die Richtung auszurichten, in der ich wachsen will, bringt wesentlich mehr, als mein Leben lang gegen meine Schwächen anzukämpfen. Das Letztere ist ein energieloser Weg, das Erstere ein Weg der Kraft, der uns die innere Ruhe schenkt, die bewirkt, dass wir nicht jeden Tag neu der beste aller Menschen sein müssen.
An der Innenseite unserer Haustür prangt ein kleiner Aufkleber mit Worten der Musikerin Julia Ivansson; der Text lautet: «Denk daran: Man muss nicht immer sein Bestes tun.» Ich versuche, in dieser Erkenntnis zu wachsen. Ich mag ihn überhaupt nicht, den Ausdruck: «Finde dein bestes Ich.» Manchmal müssen wir uns damit begnügen, das zu tun, was uns möglich ist, und mit dem Sich-selber-Übertreffen bis morgen warten. Oder bis übermorgen. Heisst das, dass wir resignieren? Absolut nicht. Sondern wir werden realistisch und barmherzig. Wir sind Kinder Gottes und keine modernen Superheiligen.
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