Etwas leisten, um Gott zu erleben?
Ich liebe es, mit Gott unterwegs zu sein und seine Präsenz immer wieder in meinem Alltag zu erleben. Ich rede davon, Gott in meine kleinsten Entscheidungen mit hineinzunehmen, die Verbindung zu ihm ständig aktiv zu halten und meine Gottesbeziehung wie eine Vater-Tochter-Beziehung zu sehen. Ich bin dankbar, dass ich meine Beziehung zu Gott ohne Druck oder Pflichtgefühl leben kann. Und ich liebe es, mit ihm im Gespräch über die kleinen und grossen Dinge im Leben zu sein. Diese Freiheit habe ich jedoch nicht immer so empfunden.
Nicht selten ist unsere Gottesbeziehung geprägt von Vorstellungen und Prägungen, die wir in einer Kirche oder Gemeinde oder auch familiär erfahren haben. Das können gewisse Bilder sein, die wir mit Gott verbinden. Glaubenssätze, die wir übernehmen, oder erlernte Abläufe, die unseren Zugang zu einer Gottesbeziehung prägen. Nicht selten beeinflussen diese Erfahrungen ebenfalls unsere Wahrnehmung von Sätzen, Aussagen oder Aufforderungen, die wir im gemeindlichen Kontext hören. Wie gut, dass wir einen Gott haben, der uns immer mehr in die Freiheit führen möchte.
Entmutigt
«Bete erwartungsvoll!», «Streck dich aus nach Gott!», «Erwarte, dass …!», «Nimm in Anspruch …!» All diese Sätze habe ich im gemeindlichen Kontext bezogen auf meine Beziehung zu Gott gehört – zusammen mit vielen anderen Menschen. Während diese Sätze bei meinem Nebensitzer vielleicht Freude, Euphorie oder Ermutigung ausgelöst haben, führten sie bei mir zu einer Glaubenskrise, in die ich unbemerkt immer weiter hineinrutschte. Wie kann das sein? Warum können dieselben Aussagen bei Menschen Unterschiedliches auslösen? Je nachdem, wie wir geprägt sind, hören wir Aussagen, Aufforderungen oder Ermutigungen mit einem «anderen Ohr». Bei mir war dies das «Leistungsohr».
Während andere ermutigt waren, hatte ich das Gefühl, ich müsse etwas leisten, um Gott zu erleben. Dass es an mir liege, dass Wunder geschehen, Gott sich mir zeigt oder ich seine Gegenwart spüre. In meinem Alltag führte dies dazu, dass ich bei jedem Beten und bei jeder Minute, die ich in Gottes Gegenwart verbringen wollte, eine Stimme im Ohr hatte, die mir sagte: «Du wirst es nie schaffen, es ist deine Schuld.» Stück für Stück habe ich mich entmutigen lassen, sodass ich am Ende der Überzeugung war, dass Gott mich sicher nicht gebrauchen kann und dass es meine Schuld sei, dass ich Gott nicht erlebe.
Leistungsdruck
Im Sommer letzten Jahres war ich aus den genannten Gründen so weit von Gott entfernt wie noch nie. Ich konnte nicht mehr in der Bibel lesen, ich habe es nicht ausgehalten, Lobpreismusik zu hören. In der Kirche sass ich da und fragte mich, was ich eigentlich hier mache. Die einzigen Gespräche, die ich mit Gott hatte, waren solche, in denen ich Gott sagte, dass ich nicht mehr kann. Regelmässig habe ich Gott meinen Schmerz und meine Wut über diesen Leistungsdruck entgegengeschleudert. Tagelang, ohne eine Veränderung.
Eines Tages war ich im Auto unterwegs und so verzweifelt über meine Situation und Gottes Schweigen, dass ich zu Gott sagte: «Es tut mir leid, aber ich will gerade nicht deine Tochter sein.» Ohne dass ich damit gerechnet hatte, antwortete Gott mir mit dem Satz: «Und das ist völlig in Ordnung.» Ich war so berührt, dass ich fast nicht mehr weiterfahren konnte. Plötzlich spürte ich in mir einen Frieden, dass Gott meinen Kummer, meine Fragen und auch mein Zweifeln aushalten kann. Dass ich gerade gar nichts leisten muss und einfach nur sein darf. Es gingen ungefähr drei Wochen ins Land, in denen ich die Situation nur aushalten konnte. Ich betete nicht, erwartete nichts von Gott, streckte mich nicht aus und nahm auch nichts in Anspruch.
Offene Tür
An einem Sommerabend war ich mit meinem Mann in der Stadt unterwegs. Wir liefen durch die Fussgängerzone, als plötzlich ein gewaltiges Unwetter aufzog. Wir konnten uns nur schnell unter eine Brücke am Bahnhof retten, ehe wir von heftigem Starkregen überrascht wurden. Neben uns war eine Gruppe Obdachloser. Wir kamen mit ihnen ins Gespräch. Relativ schnell ergab es sich, mit einigen ein Gespräch über Jesus anzufangen. Alle waren offen, aber auch teilweise nicht mehr ganz nüchtern.
Bis zu dem Moment, als Tim hinzukam. Tim war nüchtern, aber er schleuderte mir eine Vielzahl an Vorwürfen, Verschwörungstheorien und antisemitischen Aussagen entgegen. Er redete und redete, und ich war völlig überrumpelt. Plötzlich merkte ich, wie sich die Atmosphäre veränderte. Ich kann es nicht anders beschreiben, als dass eine Tür aufging und Gott selbst mit seiner Gegenwart die Atmosphäre erfüllte. Plötzlich hatte ich Worte. Ich konnte agieren und das Gespräch gezielt auf das Evangelium lenken.
Tim hörte auf zu reden und begann zuzuhören. Seine Fragen wurden klarer, und ich konnte hinter die Fassade blicken. Wir sprachen über die Bibel und das, was Jesus uns und damit auch ihm versprochen und geschenkt hat. Ich werde es nicht vergessen, wie Tim vor mir stand, ich ihm in die Augen sah und sagte: «Tim, die Frage ist nicht, wann und wie Jesus wiederkommt, sondern ob er dich kennt, wenn es so weit ist!» Tim schaute mich nur an, und es war, als hätte unser Gespräch ein natürliches Ende gefunden, weil alles besprochen war. Nun hatte ich erneut das Gefühl, dass die Atmosphäre sich veränderte. Es war, als ob dieselbe Tür, die sich geöffnet hatte, nun wieder zufiel.
«Weil es an mir liegt»
Der Regen hatte aufgehört. Auch mein Mann hatte seine Gespräche beendet, und wir merkten, dass unser nächster Bus fuhr. Schnell liefen wir los. Im Bus sass ich am Fenster, schaute hinaus und fuhr genau an der Stelle vorbei, an der ich noch vor einigen Minuten mit Tim gestanden hatte. Während ich hinausschaute, hörte ich dieselbe vertraute Stimme wie vor drei Wochen: «Siehst du, du hast nicht gebetet, nichts erwartet, dich nicht ausgestreckt und nichts in Anspruch genommen. Und doch kann und möchte ich dich gebrauchen – weil es an mir liegt und nicht an dir!»
In diesem Moment kam so viel mehr Freiheit in mein Herz. Ich verstand plötzlich: Es lohnt sich zu beten. Wir können erwarten. Ich darf mich ausstrecken. Ich bin frei, in Anspruch zu nehmen. Gott ist kein Leistungsgott, er verteilt keine Noten oder unterteilt uns in Leistungsklassen. Gott wünscht sich eine Freiheit und eine Liebe in unserer Beziehung zu ihm, aus der heraus wir Veränderung erleben können und werden. Wir dürfen Vater sagen zu dem König aller Könige, einem starken, ewigen Gott, der unfassbar viel mehr ist, als wir uns vorstellen können. Was für ein Privileg, dass wir erwartungsvoll beten dürfen, dass wir uns ausstrecken können nach ihm und dass wir die Realität seines Königsreichs und seiner Herrschaft in Anspruch nehmen können!
«Bete erwartungsvoll!», «Streck dich aus nach Gott!», «Erwarte, dass…!», «Nimm in Anspruch…!» Wenn ich heute solche Sätze höre, denke ich nicht mehr an Leistung, sondern an einen Vater, der mir so viel zu geben hat. Ich bin dankbar, dass Gott selbst mein Bild und meine Wahrnehmung verändert hat und ich frei sein kann in meiner Beziehung zu ihm. Gott hat mich frei gemacht, eine Vater-Tochter-Beziehung im Alltag zu erfahren, die mich befähigt und manchmal auch herausfordert. Die aber eines sicher nicht ist – erdrückend und leistungsorientiert.
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