«Jüngerschaft passiert nicht nebenbei»
Wie definieren Sie den Kernauftrag von uns Christen und Christinnen?
Matthias «Kuno» Kuhn: Ich würde drei Punkte benennen. Erstens: Jesus wollte Jüngerschaft. Er hat nie befohlen: «Baut Kirchen.» Wenn wir Jünger machen, dann werden Kirchen daraus. Wenn wir Kirchen machen, werden selten Jünger daraus. Zweitens: Wir bauen Kirche für die, die noch nicht da sind, ganz nach Lukas Kapitel 19, Vers 10: «Ich bin gekommen, um das Verlorene zu suchen.» Drittens: Jesus hat uns selbst mit dem Wort «Ekklesia» bezeichnet, was nicht nur «herausgerufen» heisst, sondern auch eine politische Grösse war. Das bedeutet, dass wir das Reich des Himmels hier auf der Erde vertreten sollen, also Friede, Freude und Gerechtigkeit bringen.
Wie soll eine Kirche den Kernauftrag leben?
Ich bin überzeugt, dass Kirche vom Kleinen zum Grossen wachsen muss – wie das auch in der Natur passiert. Nur in der Kirche haben wir geglaubt, es geschehe umgekehrt, und sind konsterniert, dass im Kleinen die Qualität fehlt, währenddem wir sie im Grossen vielleicht noch finden. Ich glaube, dass wir daher Jüngerschaft auf drei Ebenen leben müssen. Erstens, eins zu eins mit Menschen persönlich unterwegs sein. Die zweite Ebene ist die der Familie. Das wäre für mich die Kleingruppe. Und die dritte Ebene ist die der Verwandtschaft. Das wäre für mich ein Sonntagsevent. Wenn Kirche aber nur auf der dritten Ebene stattfindet, fehlt das Entscheidende.
Was bedeutet der Individualismus für den Kernauftrag?
Ich glaube, dass der Individualismus nicht grundsätzlich ein Hindernis ist. Das Leben von Jesus zeigt ja, wie man Jünger macht. Man muss eine Form finden, die Lehre mit dem Alltag der Leute zusammenbringt. Dann werden Menschen befähigt, das auch wieder zu machen. Multiplikative Jüngerschaft nenne ich das. Wenn man das nicht macht, werden wir als Kirchen zu Konsuminstrumenten, die zwar Programme bieten, die christlich animieren und auch berühren, aber es wird nicht multiplikativ.
Vernachlässigen Kirchen den Kernauftrag und die Mission?
Wir haben ein Kirchenbild, das sehr stark auf Konsum ausgelegt ist. Ich bin überzeugt, dass damit viele leitende Personen absorbiert sind und das Kirchenvolk dies auch von ihnen erwartet. So können sie gar nicht ausbrechen aus dem Programm, etwas gestalten zu müssen. Wir haben einen grossen Mangel im Bereich von Jüngerschaft. Es bräuchte einen grossen Paradigmenwechsel. Es geht nicht, dass Jüngerschaft noch nebenbei passiert.
Halten Sie die «klassischen» Kirchen für obsolet?
Ich habe eine grosse Liebe zur Kirche. Jesus ist inmitten der Kirchen und hat sich nicht verabschiedet. Aber das Modell seines kirchlichen Lebensstils war definitiv anders als das, was wir heute leben. Jesus hat eine Kleingruppe gegründet, das war seine Form der Kirche. Er hat ab und zu ein «Big Event» abgehalten, aber das waren die Highlights und nicht die Grundlage im Jahreskalender. Zu sagen, Kirche sei ein Auslaufmodell, wäre falsch. Meine grosse Frage ist aber: Wie werden Menschen in diesen Kirchen mündig? Wir sollen nicht Kirchen mit Kleingruppen, sondern ausgehend von Kleingruppen Kirchen bauen.
Wie viele Menschen braucht es, um diesen Kernauftrag zu leben?
Den Kernauftrag können wir nicht allein leben, wir können uns nicht selbst zu Jüngern machen. Wir brauchen auf jeder Ebene einander, um in einer gesunden Qualität voranzukommen. Kirche im Alleingang zu leben, ist ein No-Go.
Welche Rolle hat der Pastor, wenn es darum geht, dass die Kirche den Kernauftrag lebt?
Die Rolle des Pastors müsste sich ändern. Mein Auftrag als Pastor ist, dass ich Menschen zu Jüngern mache. Und dass ich andern helfe, dass sie das Gleiche tun können. Mein wichtigstes Treffen ist jenes mit unseren Kleingruppen-Leitern. Der Sonntagmorgen-Gottesdienst, worauf sich alles fokussiert hat, steht nicht mehr im Zentrum. Er ist «nice to have», aber bitte nicht jede Woche. Es muss mehr Zeit in Menschen statt in Programme investiert werden.
Gibt es aus Ihrer Sicht heute zu wenige oder zu viele Gemeindegründungen?
Es gibt viel zu wenige Gemeindegründungen. Die Mehrheit der Menschen in der Schweiz erreichen wir nicht mit unseren Programmen. Es ist extrem wichtig, dass wir alternative Wege gehen. Wenn Gemeindegründungen aus einem rebellischen Antrieb kommen, dann kommen sie nicht weit. Am Anfang erleben diese vielleicht einen Hype, der aber oftmals schnell vorbei ist. Bei einer Gemeindegründung muss man vom Kleinen ins Grosse gehen und es dort versuchen, wo es auch ein Bedürfnis ist.
Was sind die grössten Herausforderungen bei einer Gemeindegründung?
Das eine sind Beziehungen: In der Art, wie wir Kirche bauen, ist Beziehung sehr zentral, damit auch delikat. Den zweiten Punkt finde ich sogar noch etwas schwieriger: Kirche zu leben für die, die noch nicht da sind. Wir delegieren dies gerne an die zehn Prozent Evangelisten, die wir in unseren Reihen haben. Ich halte es für eine Herausforderung, Formen zu finden, so dass eine ganze Kirche das leben kann, nicht nur die gewieften Rhetoriker. Ausserdem sollten wir nicht zu viel in Menschen investieren, in denen der Hunger nach Jesus noch nicht geweckt ist. Jesus sagt auch, wenn nicht der Vater zieht, dann nützt alles nichts.
Wie können wir Nichtchristen das Evangelium schmackhaft machen?
Ich spüre bei den Leuten eine Sehnsucht nach Spiritualität, spiritueller Geborgenheit und nach dem Himmel. Wenn ich aber frage, ob Kirche für sie relevant sei, verneinen viele. Ich sage dann, dass ich nicht wegen der Kirche da bin, sondern wegen des Glaubens an Jesus. Wenn man das in einer fröhlichen und natürlichen Art vermitteln kann, ist das super. Das alte Bild der Kirche aber, das Menschen abhält, Jesus kennenzulernen, muss revidiert und mit einem neuen, leidenschaftlichen Jesus-Bild ersetzt werden. Wenn das geschieht, sehe ich viele Menschen, die dem Christentum gegenüber keine Vorbehalte haben.
Dieser Beitrag erschien zuerst im SEA Fokus, dem Hintergrundmagazin der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA.
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