Unservater in Farbe und Form
Gibt es etwas, was alle Gläubigen untereinander mit Gott verbindet? Im Unservater kommt der gemeinsame Glaube vor Gott in ganz eigener Weise zur Sprache. Das Gebet gehört zu den wenigen Texten in der christlichen Glaubenstradition, die die meisten Menschen heute noch auswendig können. Das Vaterunser oder, wie die Reformierten sagen, das Unservater hat unsere Kultur geprägt und wurde daher zu einer der berühmtesten Bibelstellen überhaupt (Matthäus Kapitel 6, Verse 9-13 und Lukas Kapitel 11, Verse 2-4). Jesus gab es seinen Jüngern auf den Weg. Es ist ein schlichtes, kurzes Gebet mit fünf beziehungsweise sieben Bitten – je nach Überlieferung. Es gilt auch in der Forschung als authentisches Jesuswort und wird von allen christlichen Konfessionen dieser Welt gebetet. Laut einer Verfügung von Karl dem Grossen, dem ersten abendländischen Kaiser, musste jeder Christenmensch in seinem Reich das Gebet auswendig hersagen können. Wer es trotzdem nicht konnte, durfte nicht Pate oder Patin werden.
Raum der Geborgenheit
Die Tradition des Auswendiglernens hat sich bis weit in unsere Zeit gehalten. Auch die heute 71-jährige Hanna Bieri musste es bereits als Kind verinnerlichen. Aufgewachsen ist sie in einer grossen Berner Oberländer Bauernfamilie im Obersimmental. «Es war unser Tischgebet; entweder sprach es die Mutter oder eines von uns neun Kindern», erzählt sie. «Dieses Gebet war für mich wie ein geistiger Raum der Geborgenheit – und ist es bis heute geblieben.»
Das Christlich-Spirituelle begegnete ihr später wieder in ihrer beruflichen Tätigkeit als Pflegefachfrau und Kursleiterin in klinischer Seelsorge. Und auch, als sie mit 41 Jahren ein Medizinstudium in Angriff nahm und Fachärztin FMH mit Spezialisierung Pädiatrie wurde. «In medizinischen Berufen ist man vielen Schwerkranken nahe und macht gemeinsam mit ihnen seine Grenzerfahrungen», sagt sie.
«Malen ist diskreter als reden»
Einem Bekannten, den sie im Dementenheim begleitete, zeigte Hanna Bieri ein erstes Bild, das sie zum Unservater gemalt hatte. Der gebrechliche Mann betrachtete es interessiert und wach.Er suchte nach Worten. Das Gebet war ihm bestens vertraut, denn er war Pfarrer gewesen. «Stammelnd fand er die vertrauten Worte des Jesusgebets wieder», berichtet Hanna Bieri. Danach sei er ruhig gewesen, dann habe er gesagt: «Da musst du dranbleiben.» Sie beherzigte den Rat, las ein Buch zum Thema und beschloss, das Gebet in mehreren Bildern malend auszuloten. «Denn malen ist offener und diskreter als reden und schreiben», erklärt sie. Entsprechend habe sie Religion schon immer «lieber gelebt als geredet».
Nun hat sie die Serie zum Unservater mit zwölf Aquarellen fertiggestellt. In abstrakten Formen und fliessenden Farben hat Hanna Bieri die Worte des Gebets in ihre ganz persönliche Sprache der Malerei übersetzt. «Ich habe mich bewusst für das Abstrakte entschieden, denn so zwinge ich niemandem meine Gedanken auf, sondern rege an zur eigenen Betrachtung.» Auf den Bildern zeigen sich mystische Farbcluster, geheimnisvolle Nebel und verschleierte Gedankenspuren. Rückgriffe auf eine naturalistische Malweise tauchen nur andeutungsweise auf, etwa als Konturen von bittenden Armen zum Passus «unser tägliches Brot gib uns heute». Oder als angedeutetes, wie hingehauchtes Kreuz zum «Amen», dem letzten Wort des Gebets. Denn das letzte Wort, das Jesus am Kreuz sprach, ist auch eine Art Amen: «Es ist vollbracht.»
Die Essenz des Christentums
Bei der malerischen Umsetzung habe sie das Vaterunser vertieft kennengelernt, sagt Hanna Bieri. In diesem Gebet sei die Essenz dessen enthalten, was das Christentum ausmache: das verbindende «Wir», das Verzeihen, das Urvertrauen, das Aushalten von Schwerem und Unbegreiflichem, zudem das Eingebundensein in das Transzendente, über den Menschen weit Hinausweisende. Der Bilderzyklus in Fine Art Prints kann als Ganzes oder als einzelne Bilder erstanden werden (hanna.bieri@bluewin.ch).
Dieser Artikel erschien zuerst im Dienstagsmail.
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