Macht Gier die Wirtschaft kaputt?

Grund zur Sorge, aber kein Anlass zur Panik: Der US-Theologe Albert Mohler versucht seine Landsleute zu beschwichtigen und spart nicht mit Kritik an den Finanzhaien.
Albert Mohler

Laut Mohler ist die aktuelle Wirtschaftskrise nicht mit 1929-33 zu vergleichen. „Der Kapitalismus steckt nicht in der Krise; die Grundlagen der US-Wirtschaft bleiben stark.“ Dazu zählt der Theologe, Präsident des Seminars der Südlichen Baptisten in Louisville, Kentucky, die Innovationskraft, leistungswillige Arbeitnehmer, eine starke Nachfrage, grosse Naturschätze und unbegrenztes intellektuelles Kapital.

Die globalen Finanzmärkte hätten unsinnig aufgeblasene Notierungen von US-Wertpapieren für bare Münze genommen, schrieb Mohler Ende September in einem Blog, den ‚Christianity Today‘ übernahm. Diese Irrtümer hätten zum Crash geführt, als realistische Einschätzungen am US-Immobilienmarkt Korrekturen erzwangen.

Gewinnstreben okay, Gier schlecht

Ist die amerikanische Finanzwirtschaft abgestürzt, weil sie der Gier nach dem schnellen Geld erlag? Ja und Nein, antwortet Mohler. Im Rückgriff auf Adam Smiths ökonomischen Klassiker von 1776 und auf die Bibel („Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert“) bewertet er Gewinnstreben als normal; es sei nicht an sich gierig, auch wenn die Versuchung dazu bestehe. „Der Markt funktioniert, weil alle Beteiligten nach Gewinn trachten.“ Doch haben, das räumt auch Mohler ein, Gier und das Streben nach überrissenem Profit auf Kosten anderer an den Finanzmärkten durchgeschlagen.

Die meisten halten Aktien

Der Theologe, einer der geachteten Sprecher der konservativen Evangelikalen, fordert die Christen der USA auf, ernsthaft über die Wirtschaftskrise und ihre eigene Rolle als Teilnehmer am Markt nachzudenken. Da heute (im Unterschied zu 1929) die meisten Amerikaner Wertpapiere besässen, liege es im Interesse aller, dass die Börse sich erhole. „Christen sollten die Wirtschaft als einen Test unserer Werte betrachten. Die Bibel spricht sich für ehrliche Arbeit und fleissige Arbeiter aus – wir sollten es auch.“ Unehrliche Buchhaltung sei nichts anderes als ausgeklügelte Lüge, Insiderinformation eine Form von Diebstahl. Christen sollten sich hüten, dem Impuls für raschen Gewinn nachzugeben.

Die unsauberen Praktiken haben, wie Albert Mohler festhält, zu einem gravierenden Vertrauensverlust in der Wirtschaft geführt; dabei ist Vertrauen „die wesentlichste Ware, die am Markt gehandelt wird. Ohne Vertrauen fällt das ganze System in sich zusammen.“

„US-Wirtschaft ein Wunderwerk“

Die Debatte der Politiker in Washington kommentiert Mohler in seinem (vor dem Scheitern des ersten Pakets im Kongress verfassten) Text mit dem Hinweis, dass ohne staatliches Eingreifen auch der Kleininvestor grosse Verluste einfahren würde, nicht bloss der raffgierige Spekulant. „Angesichts der Realität menschlicher Sünde sollten wir die Kontrolle der Wirtschaft nicht in die Hände weniger Personen geben“. Nach allem aber, so der Theologe, „bleibt die US-Wirtschaft ein Wunderwerk“. Und er fragt seine Leser, ob sie es denn gegen irgendein anderes System eintauschen wollten.

Christen sind Treuhänder

Christen sollen aber nicht nur Teilnehmer am Markt, sondern Treuhänder von anvertrautem Gut sein, schreibt Mohler. „Alles was wir sind, was wir tun und besitzen, gehört eigentlich Gott und soll für Zwecke seines Reichs zur Verfügung stehen.“ Statt den Panikknopf zu drücken, sollten Christen ihre Energie darauf verwenden zu überlegen, wie sie Gott in ihrem wirtschaftlichen Verhalten ehren könnten. „Wir sollten die Entwicklungen in Washington und New York mit Interesse verfolgen, aber unser eigenes Herz mit noch grösserer Dringlichkeit erforschen.“

Kommentar

Nüchternheit mit Grenzen

von Peter Schmid

Die Wachstumseuphorie führte zur Immobilienblase, weil immer mehr Amerikaner aufs Spekulieren Lust bekamen, in der Erwartung, das zu teure Eigenheim bald mit Profit verkaufen zu können. Davon redet Mohler nicht.

Er verschweigt auch das Versagen von Finanzmarktaufsicht, Notenbank und Politik, die den Exzessen vor Jahren hätten wehren sollen. Wenn man heute feststellt, dass Wertpapiere auf den Markt geworfen wurden, über deren Wert keine vernünftige Berechnung Auskunft gab – warum sah man das nicht früher ein?

Bemerkenswert sind Mohlers kaum angefochtenes Ja zum Kapitalismus und sein Vertrauen in die Wirtschaftskraft der USA. Dass ihre Stellung im globalen System unübersehbar bröckelt, scheint dem Theologen noch nicht zu dämmern – oder er will es seinen Lesern ersparen.

Das Leben auf Pump, das Millionen Amerikaner – und die Gesellschaft insgesamt – geführt haben, läuft den angesprochenen Richtlinien der Bibel zuwider, doch die mit der Kreditkarte gegebene Versuchung ist für Mohler kein Thema. War es im September noch nicht. Warten wirs ab.

Datum: 06.10.2008
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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