Die Angst wie eine Krone tragen

Die Angst wie eine Krone tragen
Eine der Veränderungen, die das Leben mit sich bringt, ist der Übergang von der permanenten Sehnsucht der Jugend, dass bitte etwas geschehen möge, zu der Hoffnung, dass nichts passieren wird.

Aber ganz offensichtlich ist es nicht möglich, zu leben, ohne dass Dinge geschehen, die wir nicht gewollt haben. Ich möchte hier keine lange Latte von Beispielen geben, aber mir ist bisher nicht ein einziger Mensch begegnet, der ohne Narben durchs Leben gegangen ist. Es passiert leicht, dass wir Angst vor dem Leben bekommen. Diese Angst ist wie ein Schatten in meinem Leben, ein ständiger stummer Begleiter, der eine Frucht meiner Erfahrungen ist.

Es ist nicht so, dass ich pausenlos diese Angst hätte, aber manchmal schlägt sie zu. Ich merke das daran, dass ich immer häufiger darum bete, dass meinen Lieben nichts Böses geschieht. Ich merke das auch im Strassenverkehr; ich muss öfter daran denken, wie dünn die Grenze zwischen Leben und Tod ist, wie gefährdet und zerbrechlich alles ist. Und so bete ich: «Gott, gib, dass nichts passiert!» Ich glaube, ich bin nicht der Einzige, dem es so geht; wir dürften ziemlich viele sein.

Wie eine Krone

Der Autor und Pastor Tomas Sjödin

Ich höre gerne einen Song der norwegischen Sängerin und Komponistin Rebekka Karijord, den sie selbst geschrieben hat. Sie fasst eine ähnliche Angst in Worte, und sie weicht ihr nicht aus, sondern konfrontiert sie: «I’m gonna take that fear and wear it like a crown.» («Ich will diese Angst packen und wie eine Krone tragen.») Ich liebe diesen Text; sein Realismus und Kampfgeist stärken mich. Und ich versuche, in den Fussstapfen seiner Schöpferin zu gehen und meine Angst zu packen und wie eine Krone zu tragen, also wie etwas, für das ich mich nicht schämen muss.

Das Leben wählen

Ich habe so viele Menschen kennengelernt, die ihr Leid getragen haben, ohne zu verzweifeln. Sie haben sich nicht heldenhaft oder stoisch über den Schmerz erhoben. Sie haben mit ihm leben und kämpfen müssen, wie alle anderen auch, aber sie haben das getan, ohne kaputtzugehen oder verbittert zu werden. Sie erzählen gerne von ihrem Erleben, wenn man sie fragt, und in ihrer Gesellschaft muss die Angst mindestens ein Stück weit weichen.

Ich glaube, wenn wir etwas wirklich Wichtiges über das Leben lernen wollen, müssen wir uns an solche Menschen halten. An die Erfahrenen. Die Verletzten, Durchbohrten. Die, die ihre Weisheit nicht aus billigen Selbsthilfebüchern haben, sondern aus der persönlichen Schule des Lebens. Es gibt Dinge, die kann man nur durch die eigene Erfahrung lernen. Es ist ein rauer Weg, aber wenn einem die Gnade vergönnt ist, sich jemandem anzuschliessen, der ihn schon gegangen ist, dann ist er passierbar. Ich bewundere die Menschen in meinem Freundeskreis, die im Leben unterschiedliche Arten von Missbrauch erfahren haben, aber wieder aufgestanden sind. Die das Leben gewählt haben und es durch ihre blosse Existenz feiern. Sie tragen ihre harten Lebensgeschichten wie Kronen.

Diesen Kampf gibt es offenbar schon so lange, wie es Menschen gibt. Er zieht sich jedenfalls wie ein dünner roter Faden durch die jahrtausendealten Texte der Bibel. Nicht als das Hauptthema – das ist die Erlösung –, sondern als roter Faden, der nötig ist, wenn das Gesamtbild die Wirklichkeit widerspiegeln soll. Ohne diesen  Faden ist alles nur Kitsch und emotionale Billigware. Aber die Bibel überlässt die Menschen, die in Angst sind, nicht ihrem Schicksal, sondern betont unermüdlich, dass die wahre Liebe die Angst vertreibt, ja, dass sie Ängste zu Kronen umschmieden kann. Vielleicht ist dies das, was am schwierigsten zu formulieren ist, ohne im Graben der Floskeln und Klischees zu landen: dass es unmöglich ist, zu leben, ohne manchmal Angst zu haben, aber dass die Angst nicht allmächtig ist.

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Autor: Tomas Sjödin
Quelle: Magazin Aufatmen, SCM Bundes-Verlag

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