Gemeindetrend: Gemeinschaft statt Gottesdienst
Immer weniger Menschen besuchen Gottesdienste. Diese Wahrnehmung ist – zumindest in Westeuropa – keine Überraschung. Und sie betrifft Christinnen und Christen genauso wie nichtkirchlich geprägte Menschen. Tatsache ist nämlich, dass auch diejenigen, die fest zu einer Kirche oder Gemeinde gehören, dort nicht mehr viermal im Monat im Gottesdienst sitzen, sondern eher ein- oder zweimal – und das als ihren regelmässigen Gottesdienstbesuch bezeichnen. Erwartungsgemäss ist dies für viele der Anfang vom Ende der Kirche. Warum eigentlich?
Das gestrichene Ritual
Im September letzten Jahres veröffentlichte die Forschungsgruppe Weltanschauungen eine Sammlung von Statistiken zum Gottesdienstbesuch in Deutschland. Sie bezieht sich auf die Landeskirchen und hält fest, dass der kontinuierliche Besuch in den letzten 70 Jahren (!) in der evangelischen Kirche sich bei geringen fünf Prozent der Mitglieder hält und in der katholischen Kirche von über 50 auf knapp über fünf Prozent zurückgegangen ist. Entsprechend spielt Gottesdienstbesuch in der Darstellung des «Freizeit Monitor 2023» praktisch keine Rolle: Fernsehen, Faulenzen und Fahrradfahren laufen ihm vollständig den Rang ab. So bleibt als Fazit stehen: «Es ist gleichsam ein evidenzbasierter Beleg für die Verringerung der Bedeutung von Religion.»
Wer jetzt denkt, dass dies Freikirchen nicht beträfe, der irrt. Diese verstehen sich, anders als die Landeskirchen, nicht als Mitglieder-, sondern als Beteiligungsgemeinschaften. Umso deutlicher wird auch hier, wenn Gottesdienste schlechter besucht werden. Dies ist offensichtlich keine Entscheidung gegen die eigene Kirche, sondern es ist die Entscheidung für andere Aktivitäten oder einen zeitsouveränen Umgang mit Predigten, die sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt nachhören lassen. Der kanadische Pastor, Blogger und Autor Carey Nieuwhof nennt in seiner aktuellen Beurteilung für 2024 die «stabile Kirche eine gefährdete Art». Er beschreibt die «Rückkehr zu Präsenzgottesdiensten» nach der Coronapandemie als mehr oder weniger gescheitert. Einige wenige Gemeinden würden wachsen, die meisten eher schrumpfen. Bleibende Stabilität gibt es kaum. Offensichtlich ist der selbstverständliche Gottesdienstbesuch genau das nicht mehr: selbstverständlich. Denominationsübergreifend hat sich damit ein Ritual abgeschafft.
Der ins Leere gehende Vorwurf
Etliche, die keine enge Bindung an ihre Kirche oder Gemeinde hatten, haben dies während der Coronapandemie deutlich gemerkt. Sie haben anschliessend eine ehemalige Gewohnheit nur nicht wieder aufleben lassen. Doch dies betrifft viele nach wie vor engagierte Christinnen und Christen nicht. Diese suchen Gemeinschaft – aber sie finden sie in neuen Formen, sei es in einem «Online Campus» der eigenen Gemeinde oder bei anderen Anbietern, die im Internet sehr attraktiv und professionell vertreten sind. Oft hören sie die Ermahnung, «unsere eigene Versammlung nicht [zu] verlassen, wie es einige zu tun pflegen», die im Hebräerbrief steht.
Das Problem: Der Text spricht nicht von einem geschwänzten Gottesdienst, sondern von selbstgewählter Isolation, die deutlich darüber hinausgeht. Und offensichtlich ist Ermutigung und das «Anspornen zu Liebe und guten Werken» auch anders als durch einen live besuchten Gottesdienst möglich. Bei diesem Denken geht es weniger um Resignation («Wir können es ja sowieso nicht ändern!») als vielmehr um die Erfahrung, dass Leben sich immer Formen schaffen wird – auch wenn diese anders aussehen mögen als die gewohnten.
Die Chance neuer Formen
Das Spannende an der infrage gestellten Gottesdienstkultur ist, dass es ein generationsübergreifendes Phänomen ist. Vorreiter sind jüngere Menschen, aber auch Senioren verhalten sich ähnlich. Während die Jüngeren allerdings in ihrer Online-Church unterwegs sind, schauen die Älteren vermehrt ihren Fernsehgottesdienst. Wie viele Trends ist auch dieser nicht nur sinnvoll und gut. Er kann beinhalten, dass Kirche und Gemeinde immer stärker «für mich» da sein müssen und unverbindlicher werden.
Er kann aber auch ein neues Selbstverständnis von Gemeinde fördern. Kirche ist nämlich kein Gebäude, sie besteht aus Menschen! Wenn Christinnen und Christen das leben, kommt Bewegung in die Gesellschaft. Dann werden nicht Menschen in Gottesdienste eingeladen, sondern sie sind mittendrin in einem «vernünftigen Gottesdienst», wie Paulus das nannte, weil sie verwandelt leben. Natürlich ist es nötig, dass Gläubige sich treffen, um sich zu helfen, zu ermutigen und gemeinsam auf Gott auszurichten. Muss dabei eine Lobpreisband auf der Bühne stehen oder eine Orgel auf der Empore? Eigentlich nicht…
Formen können sich ändern, sie tun es immer wieder. Nicht alles, was neu ist, ist dabei gut, aber auch nicht alles, was anders ist, ist schlecht. Ist eine Veränderung in den Gottesdienstgewohnheiten tatsächlich der Anfang vom Ende? Das ist sehr unwahrscheinlich, denn die oben beschriebene Instabilität reicht nicht bis zum Fundament, das Paulus einmal beschreibt als «auferbaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten, während Jesus Christus selbst der Eckstein ist».
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