«Raus aus der Opfermentalität!»
Unsanft wurde ich von einem Bekannten während eines Liedes des Jugendchores aus meinen Gedanken gerissen: «Sag mal, siehst du auch die wunderhübsche Sängerin ganz vorne in der Mitte der ersten Reihe? Wie kann man nur so einen kurzen Rock und ein so enges T-Shirt tragen? Unmöglich, wie sich die Frauen heute so aufreizend und provozierend kleiden! Wieso nehmen die auf uns Männer keine Rücksicht, und warum verführen sie uns so zu unreinen Gedanken?»
Mein Bekannter neben mir war sichtlich zornig. Und obwohl auch ich fand, dass sich die Sängerin zu aufreizend angezogen hatte – es ärgerte mich dennoch, dass er sich als männliches Opfer sah, das den Reizen dieser schönen Frau anscheinend hilflos ausgesetzt war. Mir kam spontan eine Frage in den Sinn: «Sag mal, würde Jesus alle Sendungen, die du im Fernsehen anschaust, alle Bilder in den Zeitschriften, die du liest, auch mit dir anschauen?»
Mein Bekannter neben mir wurde knallrot. «Ähm, nein», antwortete er verlegen. «Solltest du nicht vielmehr an deiner inneren Gedankenwelt arbeiten, bevor du dich wieder darüber empörst, wie sich eine Frau kleidet?» Mit dieser Nachfrage beendete ich das kurze Gespräch – und versuchte, mich wieder auf den Gottesdienst zu konzentrieren.
Der erste und der zweite Blick
Dieses Erlebnis, das ich noch vor dem Zeitalter des Internets hatte, fällt mir immer wieder ein, wenn ich Männer darüber klagen höre, dass wir in einer zunehmend sexualisierten Umwelt leben, dass sich Frauen in Werbeanzeigen, in Filmen und Fernsehsendungen sowie im Internet immer freizügiger präsentieren.
Auch ich finde, dass sich viele Frauen immer freizügiger kleiden. Mich ärgert, wenn mir im Gottesdienst Frauen begegnen, deren Stringtanga sichtbar aus der Hose ragt oder deren Spitzen-BH sich deutlich unter dem knallengen T-Shirt oder der Bluse abzeichnet. Und doch: Für den ersten Blick kann ich nichts, für den zweiten schon!
Wie bei Adam und Eva
Es stimmt mich nachdenklich, wenn Männer die Sexualisierung der Gesellschaft und die immer aufreizendere Bekleidung der Frauen beklagen – sich aber dann als Opfer verstehen. Das hat bereits Adam mit Eva so gemacht: Statt mannhaft der Sünde zu widerstehen, biss er in die dargebotene Frucht und warf Gott dann vor, sie habe ihn dazu verführt, die Frucht vom verbotenen Baum zu essen.
Bevor ich mich bei Gott darüber beklage, dass mir die Kleidung einer Frau zur Anfechtung wird, will ich daran arbeiten, meine Gedankenwelt «sauber» zu halten. Ich will mich jeden Tag neu dafür entscheiden, mich bewusst von Bildern fernzuhalten, die mir nicht gut tun. Klar, Pornos schauen wir alle nicht an – wir klicken uns höchstens durch Bilderstrecken im Internet, die die Wahl der «Miss Hinterschwarzwald» im züchtigen Dirndlrock zeigen. Ehrlich? Und was heisst hier «nur»?
Die Versuchung am Strand
Vor vielen Jahren hatte ich als junger Mann das grosse Privileg, auf einer Freizeit mit einem der damals bekanntesten Evangelisten Deutschlands zusammenarbeiten zu können. An einem heissen Sommernachmittag lagen wir am Strand, während wenige Meter neben uns eine bildhübsche, halb bekleidete junge Frau mit ihrem Freund Federball spielte. Sie sah einfach umwerfend aus, und ich konnte nur schwer meinen Blick von ihr abwenden und mich auf mein Buch konzentrieren.
Ich überlegte ernsthaft, mich ins Hotelzimmer zurückzuziehen, schaffte es aber dann, mich auf die Seite zu drehen und mich in mein Buch zu vertiefen. Plötzlich tippte mich der Evangelist auf die Schulter und fragte mich: «Claudius, kannst du mit mir beten? Die junge Frau neben uns ficht mich voll an.»
Ich blickte ihn verdutzt an: Da bittet ein bekannter Theologe, der seit Jahrzehnten glücklich verheiratet und Vater von inzwischen erwachsenen Kindern ist, mich als jungen, unverheirateten «Spund» um Gebetsunterstützung! Ich war zunächst sprachlos – und dann beteten wir zusammen.
Mir wurde dieser Evangelist zu einem Vorbild: Er war sich seiner Gefährdung bewusst, stand dazu und scheute sich nicht, andere um Unterstützung zu bitten. Was für ein Vorbild, was für eine Grösse! Ich will lernen, meine Grenzen zu akzeptieren – und mich daran freuen, dass Gott mich mit meiner Sexualität so geschaffen hat.
Dieser Artikel ist eine Neuauflage. Er erschien bereits im Februar 2013 bei Livenet und wurde vom Online-Magazin Adam online übernommen.
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