«Meine Kirche in 15 Jahren»

Wie wird sich die Kirche in Zukunft verändern?
«Realutopie 2038»: So bezeichnete jemand treffend seine Beschreibung der Kirche in Zukunft. Die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) hat fünf Personen gebeten, ihre Vision der künftigen Kirche niederzuschreiben.

Entstanden ist ein bunter Strauss von Ideen von Frauen und Männern, jüngeren und älteren sowie landes- und freikirchlich geprägten Menschen. Demnach wird die Kirche gemeinschaftlicher, digitaler, alltagsrelevanter, wertschätzender, ökumenischer und vieles mehr.

Jünger und vielfältiger

Prof. Dr. Lukas Kundert

Wir treten aktuell in die entscheidende Phase der Neukonsolidierung der Basler Kirche ein, in der sich die Kirche schrittweise aus der reinen Abhängigkeit von Kirchensteuern lösen wird. In 15 Jahren wird sie deutlich jünger und vielfältiger sein, sie wird in den Quartieren lebendige Gemeinschaften leben und sie wird eine verlässliche institutionelle Partnerin für andere Kirchen, Religionsgemeinschaften und den Staat sein. Und das alles, obwohl sie weniger als halb so viele Mitglieder zählen wird als heute.

  • Jünger: Es werden kleine(re) Personalgemeinden entstehen, die auch für Jugendkultur attraktiv sind.
  • Vielfältiger: Die heutigen Gemeindezentren werden sich auf unterschiedliche Milieus ausdifferenzieren.
  • Gemeinschaften: Gemeinschaftsarbeit wird durch Spenden sogar ausgebaut werden können.
  • Institution: Die institutionelle Stärke bleibt ungebrochen dank Konzentration auf die institutionelle Arbeit: Taufen, Hochzeiten, Unterricht, Konfirmation, Bestattungen und Gottesdienstarbeit sowie Präsenz der Seelsorge in den Gefängnissen, Krankenhäusern und Pflegeheimen.

Prof. Dr. Lukas Kundert, 57 Jahre, ist Kirchenratspräsident der Evangelisch-reformierten Kirche Basel Stadt, Münsterpfarrer und Professor für Neues Testament an der Universität Basel.

Digital ‒ nahbar ‒ apologetisch

Silke Sieber

Wenn ich meinen Kindern Glauben schenke, werden wir uns die Kirche per VR-Brille ins Wohnzimmer holen und unserem Avatar-Banknachbarn das Abendmahl aus dem 3D-Drucker reichen. Scherz beiseite! Für mich wird immer deutlicher, dass die Kirche der Zukunft in ihrer Organisation digital sein muss, authentisch und nahbar in ihrer Gemeinschaft, apologetisch in ihrer Verkündigung und im Gespräch mit anderen Wissenschaften. Sie muss den Menschen Zeit schenken, echte Aufmerksamkeit, ehrliches Interesse.

Wir als «precious.ch» feiern unsere «Celebrations» momentan im Event-Gewächshaus, sonntagabends, offen für alle, die schon dort sind oder zufällig vorbeikommen. Wir sitzen an kleinen Tischen und trinken guten Kaffee. Wir beten singend Gott an oder hören Musik. Dialogisch-interaktive und apologetisch gestaltete Predigtteile wechseln sich ab. Nicht mehr die grosse frontale Bühne, sondern das «Teil der Kirche sein» ist entscheidend.

Die Kirche der Zukunft muss eine sein, die das Evangelium von Jesus Christus kraftvoll, ganzheitlich und gewinnend verkündet. Sie muss dafür bekannt sein, dass sie sich die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen etwas kosten lässt.

Silke Sieber, 37 Jahre, ist verheiratet und Mama von drei Kindern. Die Theologin engagiert sich seit 2018 gemeinsam mit ihrem Mann und einem leidenschaftlichen Team für das Gemeindegründungsprojekt «precious.ch» am Zürichsee und arbeitet als Co-Geschäftsleiterin beim Bibellesebund Schweiz.

Mehr Alltag als Sonntag

Annina Gotschall

Die Kirche in 15 Jahren? Lass mich träumen … Ich träume von einer Kirche, die mehr Alltag als Sonntag ist, mehr Vergebung lebt, als Vorwürfe erhebt und mehr Hoffnung stiftet, als Angst schürt. Ich träume davon, dass der Kern des Evangeliums als beste Nachricht der Welt unsere Gesellschaft durchdringt und dass die Kirche massgeblich an diesem Prozess beteiligt ist.

Wir haben eine frohe Botschaft zu verkünden von einem «Mitgeh-Gott», der uns mitten im Alltag, in Familie, Schule und Job begleitet. Ein Gott, der sich uns in Jesus gezeigt und uns vorgelebt hat, wie wir versöhnt mit ihm und Menschen leben können. Ein Gott, von dem wir in der Bibel lesen, dass er nichts weniger als «der Weg, die Wahrheit und das Leben» ist. Dieser Gott ist eine begründete Hoffnung in Zeiten des Umbruchs und der Krisen.

Deshalb träume ich davon, dass die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen neu ihren Auftrag erkennt und die grosse Chance packt, der Welt eine neue Perspektive zu eröffnen.

Annina Gottschall, 33 Jahre, ist Sekundarlehrerin und arbeitet bei der VBG im Ressort Pädagogik. Ihre kirchlichen Wurzeln hat sie in der reformierten Landeskirche, aktuell engagiert sie sich im ICF Chur.

Ein Wohlfühlort und ein Zuhause

Romina Schifferle

Die Kirche ist für mich ein wichtiger Teil des Lebens, darum ist es mir wichtig, dass die Kirche bestehen bleibt. Ich persönlich fände es super, wenn die Kirche die technologischen Möglichkeiten noch stärker nutzen würde. Meiner Meinung nach kann man so auch die jüngere Generation besser erreichen. Denn was im Internet ist, ist für jeden einfacher zugänglich. Es kann sein, dass man vielleicht zufällig über einen Livestream stolpert.

Auch wenn nichts stetiger ist als die Veränderung, ist es mir wichtig, dass die Kirche nicht plötzlich zu weltlich wird. Von vielen Seiten wird man kritisiert, zu radikal oder intolerant zu sein, aber meiner Meinung nach ist das nicht unbedingt negativ. Mein grösster Traum für die Kirche ist, dass sich alle willkommen und wertgeschätzt fühlen. Egal, woher sie kommen oder was für eine Vergangenheit sie haben. Die Kirche soll ein Wohlfühlort oder auch ein Zuhause sein. Ein Ort, wo Menschen ihre Freunde und Familie haben und so sein können, wie Gott sie geschaffen hat.

Romina Schifferle, 19 Jahre, besucht das ICF Zürich, ist dort Teil der Youthplanet Band (Jugendkirche ICF Zürich) und im Social Media-Team von ICF SundayNight engagiert.

Bescheiden – abgespeckt – vital

Hans Corrodi

Scheinbar ist alles wie gehabt. Imposantes Kirchengebäude mitten in der Stadt, Turm, Glockengeläute, belebter Strassenkreisel. Aber es ist doch anders: Die Kirchgemeinde ist ärmer, die Steuereinnahmen haben sich halbiert, es wurden Pfarrstellen reduziert, aber es gibt überzeugte Freiwillige, die Austrittswelle ist gebremst.

Neu finanziert ein Förderverein ein Spezialpfarramt für Evangelisation und Gemeindeentwicklung. Menschen jüngeren und mittleren Alters kommen zum Glauben und lassen sich schulen. Hauskreise erweisen sich als Muntermacher und Transformer der Gesellschaft. Die Kirche ist in erster Linie Bewegung und weniger Institution. Die Jugendgruppe hat die Komfortzone verlassen, belebt den Gottesdienst und lebt den Glauben im Alltag: Freunde, Gemeinschaft, Gebet. Ein Clublokal dient als Treffpunkt. Der Förderverein kommt für die Mietkosten auf. Die Ökumene vor Ort wächst: Andere Kirchen interessieren. Gemeinsame Grundlage ist das Apostolische Glaubensbekenntnis. Man ist Teil einer weltweiten Gemeinschaft und leidet mit Verfolgten. Der gemeinsame Blickpunkt ist Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Hans Corrodi, 87 Jahre, war als Sekundarlehrer und für die VBG tätig. Später leitete er die Evangelische Stadtmission Basel und war Kirchenrat der dortigen Landeskirche. Zudem gründete er das Landeskirchenforum mit. Heute ist er Teil der reformierten Kirche Wetzikon.

Dieser Beitrag erschien zuerst im SEA Fokus, dem Hintergrundmagazin der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA.

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Autor: Lukas Kundert / Silke Sieber / Annina Gottschall / Romina Schifferle / Hans Corrodi
Quelle: SEA Fokus

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