«Wenn der Glaube nicht mehr passt»
Nach fast 25 Jahren Ehe wurde Martin Benz Knall auf Fall von seiner Frau verlassen. Er hatte nichts geahnt und stand nun vor den Trümmern seiner Beziehung. «Als Pastor brechen damit alle Lebenssäulen weg – neben der Familie verliert man vielleicht auch den Beruf, die Gemeinde und alle Freunde – das ist existenzbedrohend.» Er durfte erleben, dass die Leitung der Vineyard-Gemeinde in Basel barmherzig mit ihm umging. Sie verurteile ihn nicht, sondern lud ihn ein, nach einer Pause weiter für sie zu arbeiten, auch als Gemeindeleiter. Er wurde lediglich gebeten, seine Seite der Geschichte aufzuarbeiten. «Das habe ich gemacht, liess mich über Jahre therapeutisch begleiten. Auch mit meiner zweiten Frau setzte ich das fort.»
Versöhnung
Damals sei ihm klar geworden: «Kirche muss der barmherzigste Ort der Welt sein!» Sie dürfe nicht nur über Güte und Gnade reden, sondern müsse dies mit all ihren Facetten widerspiegeln. «Es darf nicht sein, dass uns eine grosse Schuld vergeben wird und wir dann mit einem anderen, der versagt hat, knallhart umgehen.» Vergeben - wer sollte das besser können als die Nachfolger Jesu, fragt er rhetorisch. Er konnte mit seiner ersten Frau ihre Ehe aufarbeiten, die beiden sind heute versöhnt. «Es ist heute kein Problem, zusammen mit den Kindern Weihnachten oder Hochzeiten zu feiern. Ich bin zutiefst dankbar dafür», hält Benz fest.
Der Glaube wandelt sich
30 Jahre war Martin Benz in der Vineyard-Gemeinde in Basel tätig, neu lebt er nun wieder in Lörrach, wo er herkommt. Als Theologe und Pastor kennt er die Bibel, hat das Neue Testament über 20 Mal durchgearbeitet. Dabei entdeckte er immer wieder Jesus als zugewandten, barmherzigen Sohn Gottes. Als eine Prostituierte zu Jesus kommt, ihre Haare löst und damit seine Füsse abtrocknet, verurteilt Jesus sie nicht, sondern segnet sie: «Sie liebt mich – darum geht es!»
Es sei zu kurz gefasst, die Geschichte auf die Aufforderung Jesu zu reduzieren: «Sündige nicht mehr.» Der Pastor stellt klar: «Ihm ging es um diese Frau, nicht um ihre Sünde.» Doch seine liebevolle Haltung habe die Pharisäer so aufgebracht, dass sie ihn loswerden wollten. Gleichzeitig zeige die Bibel auf, dass Gott auch harte Konsequenzen folgen lässt, wenn Menschen nicht auf ihn hören. «Wie krieg ich das zusammen?», fragte sich Benz. «Wie kann Gott zwei so verschiedene Seiten haben?» In seinem Buch setzt er sich auch mit dieser Frage auseinander.
Einseitige Beschreibung
Nicht alle Leser sind begeistert von seinen Ausführungen. Er zeige einseitig den barmherzigen Jesus, kritisiert zum Beispiel Benjamin Kilchör, Professor für Theologie. Benz lässt sich davon nicht irritieren. «Wir müssen das Ganze im Auge behalten – es geht um Liebe, nicht darum, dass Menschen nicht sündigen.» Ungerechtigkeit werde oft nur moralisch gesehen. Gott gehe es aber darum, für die Menschen da zu sein, denen Unrecht getan werde; er empöre sich da, wo Menschen ungerecht behandelt würden: «Jesus stellt sich auf ihre Seite.»
Brüche im Leben
«In unserem Glauben gibt es Bruchlinien. Sie haben etwas mit unserer Biografie zu tun», erklärt Benz. Manchmal seien es denkerische Krisen – man merke: «So kann ich das nicht mehr glauben, bisher habe ich das sehr einseitig gesehen.» Oder es gebe biografische Bruchlinien. Beides beeinflusse den Glauben mit. «Mein Herzensanliegen ist es, Begeisterung zu wecken für Jesus», stellt Martin Benz klar.
Als Pastor falle ihm jedoch auf, dass eine wachsende Anzahl von Christen diese verloren hätten. «Sie stossen auf Ungereimtheiten, sie sind enttäuscht und frustriert.» Er fordert auf, dann genau hinzusehen, wo die Schattenseiten des Glaubens die Begeisterung an Jesus abwürgten. Und überflüssig Gewordenes zu entsorgen, wie vor einem Umzug.
Glaube ist kein Monolith
«Glaube ist kein Standpunkt, sondern eine Reise», führt Martin Benz aus. «Glaube darf sich bewegen und wachsen». Wer Leben und Glauben synchron erlebe, solle freudig dabei bleiben. «Aber es gibt eine wachsende Anzahl von Christen, die Brüche in ihrem Glauben und ihrer Biologie wahrnehmen. Und die dürfen wir doch nicht im Regen stehen lassen!» Es gebe genug Bücher, die aufzeigten, dass Glaube auch eine toxische Wirkung haben könne.
Nur Gott kennt die Wahrheit
«Wir brauchen klare Überzeugungen», hält Benz fest. Und über verschiedene Meinungen könne auch gestritten werden– «bitte kein profilloses Christentum!» Aber es gebe einen grossen Unterschied zwischen der eigenen Überzeugung und der Wahrheit. Sobald eine Seite postuliere, ihre Meinung sei die Wahrheit, gehe es um Gewinnen und Verlieren. Er ist jedoch überzeugt: «Wir müssen nicht recht haben, wir können voneinander lernen». Wie das geht, zeige der Talmud: «Darin werden die Meinungen verschiedenster Rabbiner aufgezeigt. Und ich muss nicht mit allen übereinstimmen.» Ihre Weisheit erweitere seinen Horizont, der Schatz des gemeinsamen Nachdenkens sei für ihn sehr wertvoll, erklärt Benz. Er wolle Brückenbauer sein, auch in seinen Podcasts bleibe sein Ziel, für Jesus zu begeistern.
Glaube ist Stückwerk
«Wir Christen haben einen Nachteil: In unseren Diskussionen geht es immer um das ewige Schicksal der Menschen.» Das verleihe den Gesprächen eine ungesunde Dramatik und wirke wie ein Damoklesschwert. «Wenn wir einsehen, dass unser Glaube immer Stückwerk ist, können wir entspannter miteinander reden.» Gericht und Hölle sei die Sache Gottes, nicht die seiner Nachfolger. «Ich freue mich, wenn Menschen nicht in der Dekonstruktion stecken bleiben, sondern wieder zu einem tief erfüllenden Glauben zurückfinden,» hält Martin Benz fest. Die Kombination von progressiv glauben und geisterfüllt leben finde er sehr spannend. Menschen wollten neu über den Glauben nachdenken, zu neuen Inhalten finden. Er wünsche sich eine neue Liebe zu Gott, durch alle persönlichen Brüche hindurch. «Die Leidenschaft und Verbundenheit mit Gott darf uns nicht verloren gehen.»
Sehen Sie sich den Livenet-Talk mit Martin Benz hier auf YouTube an. Das Gespräch ist Teil der Serie «Glauben wir einander den Glauben noch?».
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