Das Johannesevangelium ist nur geistlich zu verstehen

Das Johannesevangelium ist das theologischste der vier Evangelien. Nimmt er es deshalb mit den Fakten nicht so genau? Ist der Inhalt wirklich hauptsächlich geistlich zu verstehen? Nein, findet Pieter Lallemann, ehemaliger Dozent für Neues Testament.

Der Kirchenvater Clemens von Alexandrien setzte um das Jahr 200 herum ein Missverständnis in die Welt, das seitdem hartnäckig fortbesteht. Um es von den anderen drei Evangelien abzugrenzen, betitelte er das Johannesevangelium als geistliches Evangelium. Clemens behauptete, dass die ersten drei Evangelisten die äusserlichen Fakten des Wirkens von Jesus geschildert hätten und dass Johannes sich aus diesem Grund auf die geistliche Seite seines Wirkens konzentriert hätte.

Das vierte Evangelium ist anders

Jahrhundertelang haben sich Menschen dieser Sicht von Clemens zu eigen gemacht und wiederholt, dass das Johannesevangelium vor allem ein geistliches Evangelium sei. Leider schliessen sie daraus oft, dass Johannes es mit den Tatsachen weniger genau nimmt, und das ist wirklich ein Missverständnis.

Die ersten drei Evangelien ähneln einander so stark, dass sie die «synoptischen Evangelien» genannt werden. Syn bedeutet «zusammen, gleich» und in optisch steckt das Wort «sehen»: Sie betrachten Jesus auf dieselbe Weise, und sie schildern die gleichen Ereignisse. Demgegenüber unterscheidet sich das Johannesevangelium tatsächlich auffällig von denjenigen der Synoptiker. Johannes berichtet nur eine kleine Anzahl von Ereignissen aus dem Leben von Jesus und stellt ihre tiefere Bedeutung in den Vordergrund. Auch zeigt er von Anfang an deutlicher als die anderen Evangelisten, dass Jesus nicht nur Mensch ist, sondern auch Gott. Aber bedeutet das wirklich, dass Johannes es mit den historischen Tatsachen über Jesus nicht so genau nimmt?

Exakte Zeit- und Ortsangaben

Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass das Johannesevangelium zweifellos ebenso viele Fakten und Einzelheiten enthält wie die Synoptiker. Während diese sich oft mit vagen Zeitangaben begnügen, grenzt Johannes viele Ereignisse zeitlich genauer ein. Lesen Sie einmal Johannes Kapitel 1, Vers 19 bis zum Beginn von Kapitel 2. Und achten Sie in der Leidensgeschichte auf die Zeitangaben in Johannes Kapitel 12, Verse 1.12 und in den Kapiteln 18 und 19. Johannes beschreibt in diesen Abschnitten sehr genau die erste und die letzte Woche des öffentlichen Auftretens von Jesus. Aufschlussreich ist auch, dass Johannes die einzelnen Passafeste nennt (Johannes  Kapitel 2, Vers 13; Kapitel 5, Vers 1; Kapitel 6, Vers 4 und Kapitel 11, Vers 55). Auf diese Weise gibt er genauer als die anderen Evangelisten an, wie lange das öffentliche Auftreten von Jesus dauerte.

Mit den Ortsangaben ist es nicht anders: Im Johannesevangelium kann man die Reiserouten von Jesus genau auf der Landkarte nachverfolgen. Jesus wandert zwischen Galiläa und Jerusalem hin und her. (Darum unterstellte der Theologe Rudolf Bultmann, dass die Kapitel 5 und 6 damals vertauscht wurden; durch diese Hypothese wollte der nette Mann Jesus ein paar Reisen ersparen!). Diese Tatsachen stehen nicht im Widerspruch zu den anderen Evangelien. Auch Markus lässt durchschimmern, dass Jesus öfter in Jerusalem war – lesen Sie einmal in Markus Kapitel 14 die Verse Kapitel 3, Vers 14 und  Vers 49. Man gewinnt den Eindruck, dass Jesus Freunde in der Gegend hat, sich in Jerusalem gut auskennt und schon des Öfteren im Tempel unterrichtet hat. Seine Freundschaft mit Marta, Maria und Lazarus in Betanien, ganz in der Nähe von Jerusalem (Johannes Kapitel 11), wird von Lukas Kapitel 10, Verse 38-42 bestätigt. Im Hintergrund stehen wohl mehrere Besuche in Betanien und Jerusalem. Während die Synoptiker sich ganz auf das Wirken von Jesus in Galiläa konzentrieren, zeichnet Johannes also ein vollständigeres und wahrscheinlicheres Bild seines Auftretens. Er berichtet auch genau, wo Johannes der Täufer wirkte (Johannes Kapitel 1, Verse 28; Kapitel 3, Vers 23 und Kapitel 10, Vers 40). Die Ortsnamen, die er dabei nennt, haben uns heute nicht mehr viel zu sagen, aber für die ersten Leser waren solche Details interessant und weckten Vertrauen.

Vertraut mit Details

Johannes erwähnt darüber hinaus beinahe nebenbei allerlei Einzelheiten, die darauf schliessen lassen, dass er das, was er berichtet, selbst miterlebt hat – beispielsweise in Johannes Kapitel 2, Vers 6; Kapitel 4, Vers 28 und Kapitel 6, Verse 22-25. Er kennt die Stadt Jerusalem auffallend gut, was unter anderem die kürzlich erfolgte Ausgrabung der Teichanlage von Bethesda bestätigt. Dort wurden Reste der fünf Säulengänge gefunden, die Johannes erwähnt (Kapitel 5, Vers 2). Jemand, der vor der Zerstörung im Jahr 70 in der Stadt war, konnte genau schildern, wo sich Pilatus’ Richterstuhl befand (Kapitel 19, Vers 13). Auch über Samaria und die Samaritaner wusste Johannes gut Bescheid, wie Johannes Kapitel 4, Verse 5-6.9. 20-21 zeigen.

Ganz offensichtlich wusste Johannes auch, dass Kaiphas zur Zeit des öffentlichen Wirkens von Jesus Hohepriester war und dass Hannas, der vorherige Hohepriester, trotzdem noch grossen Einfluss hatte (Johannes Kapitel 11, Vers 49; Kapitel 18 Verse 13.24).

Visitenkarten eines Augenzeugen

Es ist somit klar, dass Johannes ein Augenzeuge des Lebens von Jesus gewesen ist und dass es ihm zudem wichtig war, darüber verlässliche Informationen zu liefern (vgl. auch Johannes Kapitel 19, Vers 35). So wie es ein guter Historiker damals machte, unterstreicht der Evangelist seine Glaubwürdigkeit dadurch, dass er darauf verweist, dass er die entsprechenden Ereignisse selbst miterlebt hat. Er ist derjenige, der in Johannes Kapitel 21, Verse 20-24 als Augenzeuge genannt wird. Wahrscheinlich ist er auch der namenlos gebliebene Gefährte von Andreas in Kapitel 1, der zunächst ein Jünger von Johannes dem Täufer war und sich dann Jesus zuwendet (Johannes Kapitel 1, Verse 35.37.40).

Die Tatsache, dass Johannes ein tiefes Verständnis von der Person des Herrn Jesus, seiner Herkunft und der Bedeutung seines Wirkens hat, geht also nicht zu Lasten der Genauigkeit, mit der er die äusseren Gegebenheiten des Lebens und Wirkens von Jesus wiedergibt. Das Evangelium von Johannes ist geistlich, aber nicht abgehoben.

Dr. Pieter Lalleman war Dozent für Neues Testament am Spurgeon’s College, London, ist nun Pastor der Knaphill Baptist Church, England, und zudem Herausgeber der Europäischen theologischen Zeitschrift.

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Autor: Pieter Lallemann
Quelle: Magazin Faszination Bibel 02/24, SCM Bundes-Verlag