«Das Geheimnis ist das Und»
Es sind wilde Zeiten für die grossen Kirchen. Ihnen laufen die Mitglieder davon. Brauchen wir da nicht eher eine zahme Kirche?
Kommt drauf an, was man unter «wild» und «zahm» versteht. Sagen wir mal so: Wenn die grossen Kirchen versuchen, ihre Mitglieder unter Kontrolle zu bringen, weil das «Wilde» grundsätzlich als etwas Bedrohliches und zu Überwindendes angesehen wird, dann weiss ich nicht, ob das irgendwen begeistert. Wenn das «Wilde» einfach erstmal das ist, was aus sich selbst heraus lebt, aus der eigenen Würde, aus Autonomie und aus der eigenen Verantwortung, dann kann man natürlich einen Raum für Vertrauen und Freundschaft auf Augenhöhe entstehen lassen. Ich würde den Verantwortlichen in Kirche die Anleitung des Fuchses in der Geschichte vom kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry zur Lektüre empfehlen. Und «Evangelii Gaudium» von Papst Franziskus, wo es ja auch um den Instinkt der Gläubigen geht.
Sie schreiben für die, die ihre spirituelle Heimat verloren haben. Hatten Sie diese jemals in der Kirche?
Oh ja. Und ich habe sie immer noch. Vielleicht muss ich sagen, dass ich Glück hatte. Das heisst, ich bin in Kirche Menschen begegnet und habe Geschichten und Gedanken gelesen von Menschen, die mir ermöglicht haben, mich zu entwickeln und zu wachsen. Ich war Franziskaner und fühle mich immer noch zur franziskanischen Familie zugehörig. Ich bin meinen Brüdern und Schwestern dankbar für die Begleitung auf meinem Weg und ich fühle mich auch mitverantwortlich für das Erbe dieser Tradition.
Was müsste in einer Ortsgemeinde passieren, dass Menschen in ihr wieder Heimat finden? Oder geht dieses Heimatfinden schlicht an der Kirche vorbei? Braucht es sie gar nicht mehr?
Wir sollten aufhören, die Probleme der Institution zu lösen und aufhören, die Frage zu stellen, ob Menschen «zur Kirche gehen» oder eben in der Kirche Heimat finden oder sonst irgendwas. Die Menschen SIND alle gemeinsam die Kirche, der «Leib Christi», wie es Paulus im ersten Korintherbrief formuliert. Nicht die Leute gehen zur Kirche, die Kirche – als Institution – dient den Menschen. Und das muss der Ausgangspunkt für alle Überlegungen sein. Dann ist die Frage, was die Menschen brauchen und wie die Institution ihnen dienen kann.
Nach was für einer Erfahrung hungern und dürsten Ihrer Überzeugung nach die Menschen?
Ich würde sagen: bedingungslose Akzeptanz. Denn in unserer Kultur ist das sehr, sehr selten geworden. Ich würde sagen, so gut wie alle unsere sozialen Beziehungen bis in die Partnerschaft hinein sind geprägt von Bedingungen, Erwartungen, Bewertungen und so weiter. Kirche könnte und sollte Erfahrungen der bedingungslosen Akzeptanz ermöglichen. In der Tradition sprechen wir von Barmherzigkeit, aber das wird leider weitgehend reduziert auf karitatives Engagement, was dann wieder Bewertungen mit sich bringt: Ich bin stark, du bist schwach. Ich helfe dir, du lässt dir helfen. Barmherzigkeit ist Ausdruck einer Bedingungslosigkeit, die Jesus an den Tag gelegt hat, wenn er mit den «Sündern» verkehrt hat, die ja nicht hilflos waren, sondern abgesondert worden waren – Sünde kommt von «absondern» –, weil sie bestimmte Bedingungen und Erwartungen nicht erfüllt haben. Kurzum: Jesus hat niemanden ausgeschlossen. Kirche könnte und sollte solche Orte schaffen.
Sie waren junger Franziskaner, studierten Theologie. Das Studium löste ihren «Kinderglauben auf wie ein Säurebad». Sie machten sich auf eine lange Pilgerreise. Hinter Bologna machten Sie in einem Kloster mitten im Grünen eine fundamentale Gotteserfahrung. Jetzt können sich nicht alle spirituell Suchenden zu Fuss nach Italien aufmachen. Wie kann ich die Wilde Kirche in meinem Alltag entdecken/leben?
Gott kann ich überall erfahren und sogar in mir selbst. Wir leben in Gott, alles existiert in Gott und aus Gott heraus – das ist vielleicht das Wichtigste, was wir von den schöpfungsorientierten Traditionen lernen können. Ich brauche also nicht tausende Kilometer zu laufen oder zu fahren, um einen brennenden Dornbusch zu finden. Wichtig ist nur, dass ich mich auf die Wildnis einlasse, also jene Bereiche des Lebens, die wir nicht so ohne weiteres kontrollieren und oft lieber meiden. Der beste Weg zur Erfahrung Gottes liegt darin, keine Erfahrung auszuschliessen. Jede Erfahrung, die ich mache – ob sie mir positiv oder negativ erscheint – kann eine Tür zu Gott sein. Freude und Leid. Tod und Auferstehung. Das Geheimnis ist das Und.
Was meinen Sie, wenn Sie sagen «Wir müssen die Seele entkolonialisieren»?
Kolonialisierung ist ja erstmal ein politischer und historischer Begriff. Da geht es um Machtverhältnisse und Kontrolle über fremde Gebiete und ihre Bevölkerung. Ich möchte das als Sinnbild nehmen für Prozesse, die auch in uns geschehen. Wir alle entwickeln Muster der Selbstkontrolle, die unsere Persönlichkeit prägen. Wenn wir uns aber dauerhaft und vollständig identifizieren mit dieser Persönlichkeit und den Normen, die sie ausmachen, und in der Folge bestimmte unerwünschte Seiten von uns oder Impulse in uns unterdrücken, dann beginnt das, was ich hier mit innerer Kolonialisierung meine. Und dann können wir sicher sein, dass das Folgen hat. Ich kann die Entkolonialisierung zum Beispiel im Hinblick auf Ausbeutung durchdeklinieren: Wo beute ich mich selbst aus zugunsten irgendeiner Norm, die mich beherrscht? Oder: Unterdrückte Emotionen wie Wut oder Trauer brechen sich dann auf anderen Wegen Bahn. Jeder kennt das eigentlich. Und schliesslich werden wir das, was wir in uns selbst ausbeuten oder unterdrücken, auch an anderen ausbeuten oder ablehnen und das ist letztlich ein Nährboden für Ungerechtigkeit, Gewalt, Rassismus, Sexismus und jegliche andere Form von Diskriminierung. Insofern bedeutet Entkolonialisierung der Seele, dass wir bei uns damit beginnen, alles zu integrieren – und das heisst nichts anderes, als zu lieben. So betrachtet wäre die Entkolonialisierung der Seele ein wichtiger Schritt, wenn es um persönliche Reife geht und die Grundlage für eine Gesellschaft, in der niemand ausgeschlossen, unterdrückt oder diskriminiert wird. Und mit Jesus würde ich sagen: So entsteht Raum für das «Reich Gottes».
Einerseits ermutigen Sie zur Beschäftigung mit der Bibel, anderseits heben Sie hervor, dass wir trotz «allen Studierens» Zuschauer bleiben, weil wir nicht an die Quelle, den Ursprung kommen. Wie können wir die Bibel dann anders oder richtiger lesen?
Wir müssen einfach lernen, Studium und Erfahrung zu unterscheiden und nicht zu verwechseln. Studium ist Reflexion und Analyse von Erfahrungen. Im besten Fall der eigenen, grösstenteils aber Beschäftigung mit den Erfahrungen anderer, was natürlich sehr fruchtbar sein kann für das Verständnis der eigenen Erfahrungen. Wenn ich also die Bibel als Zuschauer lese, hat das nichts mehr mit eigenen Erfahrungen zu tun. Deshalb beschreibe ich im Buch Wilde Kirche eine Methode, die dem ähnelt, was anderswo Bibliolog genannt wird. Solche Formen ermöglichen, selbst eine Erfahrung IN einem Text zu machen – zwischen den Zeilen, wenn man so will. Und das kann dann der Ausgangspunkt sein für das Studium oder auch Erkenntnis aus dem Studium vertiefen.
Wo und wie kann «Wilde Kirche» in einem normalen Alltag stattfinden, Gestalt gewinnen, zur Quelle werden?
Überall und jederzeit, «wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst», wie es in Deuteronomium Kapitel 6, Vers 7 heisst. Oder eben «wo zwei oder drei» versammelt sind – laut Matthäus Kapitel 18, Vers 20. Ich will damit sagen: Wir müssen diese Kirche nicht erst stattfinden lassen, sie findet die ganze Zeit statt, die Frage ist, was wir brauchen, um das wahrzunehmen.
Sie sagen, dass man eine «Wilde Kirche» nicht «gründen» kann. Wie geht’s dann?
Wilde Kirche findet immer statt zwischen den Zeilen. Es wäre hilfreich und wichtig, zwischen den Zeilen lesen zu lernen. Und natürlich kann es hilfreich sein, dafür Räume zu schaffen. Eine Gruppe beispielsweise, die sich trifft, um miteinander im Kreis zu sitzen und sich über die eigenen Erfahrungen oder eben die Bibel auszutauschen. Das klingt nicht besonders spektakulär und neu und das ist genau der Punkt: Es braucht überhaupt nichts Neues.
Sehen Sie eine Möglichkeit, die Wilde Kirche mit der traditionellen Kirche zusammenzubringen?
Wenn mit «traditioneller Kirche» die Institution gemeint ist, dann wäre ihre genuine Aufgabe, solche Räume zu schaffen, in denen Wilde Kirche erfahrbar wird. Freilich stellt sich dann weniger die Frage, ob jemand in die Kirche (aus Stein) geht, sondern wo Gott erfahrbar ist. Und dann kommt die wilde Natur als Option vielleicht neu in den Blick. Aber auch andere «wilde» Orte – ich denke an Armenviertel, Altenheime oder andere gesellschaftlich vielfach gemiedene Orte. Nur eben nicht, um dort irgendwem zu helfen, sondern um dort Gott zu finden. Und dann gibt es ja auch aus kirchlicher Sicht gemiedene Orte, die so gesehen «wild» sind, weil sie jenseits von Glaubensbekenntnissen, Dogmen und Mitgliedschaft existieren. In der franziskanischen Tradition gibt es das schöne Motto: Unser Kloster ist die Welt. Das ist für mich ein Wegweiser.
Die «Wilde Kirche» wurde für Sie zu einer geistlichen Quelle. Was haben Sie dort gefunden, was Sie vorher in allen anderen Quellen nicht hatten?
Sie kennen vielleicht die Geschichte von C.G. Jung über die Quelle lebendigen Wassers, das sprudelt. Und dann bauen Menschen eine Einfassung, damit man besser an das Wasser herankommt und später überdachen sie die Einfassung, bauen einen Zaun, nehmen Eintritt. Und als das lebendige Wasser schon längst nicht mehr sprudelt, merkt das überhaupt niemand, sondern die Gelehrten sitzen vor dem Quellhaus und diskutieren über das Wesen des Wassers. Kurzum: Ich habe lange das «Quellhaus», die menschliche Einfassung, das Gefäss – eben Kirche als Institution – mit dem lebendigen Wasser verwechselt oder irrtümlich gleichgesetzt. Weil ich es nicht besser wusste. Die Wilde Kirche zu entdecken, hat für mich bedeutet, erstmals von dem Wasser zu kosten, um das es eigentlich geht.
Zum Buch
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