«Für uns geht niemand auf die Strasse!»

Abt Nikodemus Schnabel während der Predigt in der Klosterkirche.
Abt Nikodemus Schnabel gab dieser Tage auf Einladung von «Kirche in Not» einen Einblick in die beiden Benediktinerklöster in Jerusalem und am See Genezareth. Im Interview mit Livenet spricht er über die Situation der Christen auf beiden Seiten.

Nikodemus Schnabel, was erleben Sie persönlich vor Ort in Israel?
Nikodemus Schnabel:
Vor Ort erlebe ich einen Ozean von Leid. Ich bin jetzt seit über 20 Jahren als Mönch hier und habe natürlich engste Kontakte zu Juden, zu Muslimen und natürlich auch zu Christen verschiedener Konfessionen. Hier wie dort gibt es Leid – ich spreche einfach mit sehr vielen Menschen, die in Gaza Angehörige verloren haben. Ich höre die furchtbaren, schrecklichen Geschichten und es gibt einfach Leid hier wie dort. Es ist unsere Aufgabe als Mönche, da zu sein und als ausländische Mönche, nicht nach Europa zu gehen, sondern hier vor Ort zu sein und als Seelsorger zur Verfügung zu stehen, unsere Kirche und unsere Cafeteria offen zu halten und unsere Gebetszeiten treu zu halten an beiden Orten, in Jerusalem und in Tabgha am See Genezareth, um so zwei Oasen der Hoffnung und des Trostes anzubieten. Die Menschen brauchen keine Erklärungen, keine klugen Worte, sondern einfach, dass wir da sind.

Wie sieht Ihre Arbeit vor Ort aus?
Wir haben zwei Klöster, eines in Jerusalem auf dem Zionsberg, dem Ort des Letzten Abendmahls, dem Ort von Pfingsten, dem Ort der Fusswaschung – ein ganz wichtiger Pilgerort – und unser zweites Kloster am See Genezareth, dem Ort der Speisung der 5000; also zwei Gnadenorte. In Friedenszeiten kommen bis zu 5'000 Pilger am Tag. Jetzt fehlen die Besucher. Wir haben 30 einheimische Mitarbeiter, vor allem Christen, unter anderem aus Bethlehem. Wir entlassen sie nicht, weil wir sie sofort in die Armut schicken würden; es gibt keine Kurzarbeit und kein soziales Netz, das sie auffängt.

Wir halten beide Orte offen, auch wenn nur sehr wenige Pilger kommen. Kürzlich haben wir ein 24-Stunden-Gebet gemacht, bei dem wir alle 150 Psalmen gebetet haben, wir haben mehrere Konzerte veranstaltet, wir haben zu Beginn des Krieges ein jüdisches Dorf mit Behinderten und ihren Betreuern für einige Wochen eingeladen – so versuchen wir, zwei Oasen zu sein. Die Menschen wissen, dass sie hier immer einen Mönch finden, der ihnen zuhört. Das heisst: Spirituell geht es uns gut, finanziell geht es uns gar nicht gut.

Sie haben kürzlich mehrere Vorträge in der Schweiz gehalten, welche Botschaft haben Sie für die Menschen hier?
Ich erlebe in Europa und auch in der Schweiz eine zunehmende Polarisierung, wenn es um diesen Krieg geht. Es gibt Leute mit Israelfahnen im Profilbild und dem Hashtag #IstandwithIsrael und Leute mit Palästinafahnen im Profilbild und dem Hashtag #freepalastine. Ich fühle mich fremd. Das ist kein Fussballspiel, bei dem man seine Mannschaft so anfeuert, sondern hier sterben Menschen. Auf beiden Seiten leiden Menschen. Die Menschheit verliert. Ich wünsche mir, dass die Menschen in der Schweiz mehr die Position meines Klosters übernehmen und überhaupt diese sehr christliche Position – die aber nicht nur christlich ist, sondern eigentlich menschlich, nämlich wir als Juden, Christen, Muslime glauben gemeinsam, dass jeder Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist. Jeder Mensch und das heisst, das Wertvollste in diesem Land sind die Menschen und nicht die Grenzen. Ich glaube nicht an einen Gott, der mit einem Atlas oder einem Globus im Himmel sitzt und irgendwie göttlich festlegt, wie welche Landesgrenze zu verlaufen hat.

Wir haben christliche Brüder und Schwestern in Israel und in Palästina und eben auch in Gaza. Gerade wir Christen sind Opfer auf beiden Seiten. Auf beiden Seiten sind wir in der Minderheit. Wir haben keine grosse Lobby. Niemand in Europa geht für uns auf die Strasse. Ich wünsche mir sehr, dass die Christen in der Schweiz sehen, dass es Christen auf beiden Seiten gibt.

Wie sieht die Zusammenarbeit mit «Kirche in Not» aus?
«Kirche in Not» engagiert sich schon lange im Heiligen Land und unterstützt viele gute Projekte. Wir werden unterstützt, damit wir diese beiden Klöster weiterhin für die Menschen offen halten können und dass wir niemanden von unseren Angestellten entlassen müssen, die ja vor allem christliche Angestellte sind, eben unsere Glaubensgeschwister.

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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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