Warum kleiner Glaube kein Kleinglaube ist
Gerade hatte Jesus mit seinen Jüngern über Vergebung gesprochen. Und sie hatten offensichtlich gemerkt, dass dies ein schwieriges Thema und bei ihnen da noch viel Luft nach oben war. Sie überlegten und wandten sich dann mit einer Bitte an Jesus:
«Und die Apostel sprachen zum Herrn: Mehre uns den Glauben! Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, so würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Entwurzle dich und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.» (Lukas, Kapitel 17, Vers 5-6)
Der Wunsch nach mehr Glaube
«Mehr» – auf den Glauben bezogen klingt das sehr gut. Dabei ist der gesellschaftliche Trend, immer mehr zu wollen, eher ein Fluch als ein Segen unserer Zeit: Wirtschaftswachstum muss sein, sonst funktioniert unsere Gesellschaft nicht mehr. Ausserdem «brauchen» wir natürlich mehr PS im Auto, mehr Apps auf dem Handy, mehr Vorräte im Keller, mehr Kleidung im Schrank und mehr Geranien im Blumenkasten als die Nachbarin …
In einer Umfrage ermittelte Swiss Life-Select die Vorsorgewünsche und Lebensträume der Deutschen und kam dabei zu folgenden Ergebnissen: Die ersten Plätze waren Gesundheit (44%), Reisen können (36%) und finanzielle Selbstbestimmung (34%). Wenn man eher danach fragt, wie unsere Gesellschaft sich entwickeln sollte, dann verschiebt sich das Ganze in Richtung von Dingen, die man nicht einfach «machen» kann: 69% wünschen sich weniger Egoismus, 68% mehr Hilfsbereitschaft und genauso viele weniger soziale Unterschiede.
Und hier kamen die Jünger und wollten «mehr» – wie schon so manches Mal. Sie wollten bereits mehr Ansehen und deshalb bessere Plätze im Himmel. Weil sie sich von einigen Menschen abgelehnt fühlten, wünschten sie sich sogar Gottes Gericht und Feuer vom Himmel. Auf beide Wünsche reagierte Jesus nicht sehr verständnisvoll: «Wisst ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid?» Auf ihren Wunsch hier reagierte er anders.
Die Antwort: Glaube wie ein Senfkorn
24 Augenpaar richteten sich auf Jesus und die Jünger waren gespannt, als er ihnen erklärte: «Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn …» «Aha», dachte Philippus. Levi überlegte schon, wie viel Senfkörner er wohl von seinem Ersparten anschaffen konnte. Thomas zweifelte noch, ob sein Glaube so gross wie ein Senfkorn war. Und Petrus wollte gerade ansetzen: «Herr, wenn du es willst, dann sag mir, dass ich diesem Baum hier befehlen soll …» Dann wurde es still. Jesus sprach nicht weiter. Aber was meinte er mit dem Gesagten?
Senf war jedem bekannt. Er gehörte nicht zu den teuren Gewürzen im alten Orient wie Pfeffer oder Salz. Ein Senfkorn (Brassica nigra) war zwar nicht das kleinste Samenkorn, aber es bildete die kleinste bekannte Masseinheit beim Wiegen. Dagegen war der Maulbeerfeigenbaum (Ficus sycomorus) wegen seiner Früchte und seines Schattens sehr beliebt. Das Holz war extrem belastbar, ausserdem galt er wegen seiner massiven Wurzeln als «Weltenbaum», der unverrückbar mit den Urtiefen der Erde verbunden war. Sollte das wirklich bedeuten, dass ein minimaler Glaube auch das stabilste Hindernis überwinden konnte?
Kleiner Glaube – grosse Wirkung
Eines war damals wie heute klar: Jesus plante keine grossangelegte Baumfällaktion, um Bäume ins Meer zu werfen. Sein Gleichnis enthält auch keine konkrete Handlungsanweisung. In seinem Klassiker «Tagebücher eines frommen Chaoten» lässt Adrian Plass seinen Protagonisten nächtelang mit einer Büroklammer üben, um ihr vollmächtig zu gebieten, sich zu bewegen. Nein! Das taugt nur zur Satire und ist so nicht gemeint. Stattdessen unterstreicht das Gleichnis, dass Glaube die Kraft ist, die sogar Vergebung möglich macht (darum geht es ja in den Versen vorher).
Will Jesus überhaupt, dass unser Glaube zunimmt? Kritisiert er unseren Kleinglauben – und den der Jünger? Oder ermutigt er uns, dass kleiner Glaube bereits reicht?
Jesus scheint zu sagen: Warte nicht auf etwas Grosses, das noch kommt, sondern fang jetzt an – mit dem kleinen Senfkornglauben, den du bereits hast. Das Potenzial ist jedenfalls gewaltig. Ausserdem stellt er hier das weit verbreitete Wachstumskonzept infrage. Wir lernen Flöte spielen, üben und werden besser. Wir joggen regelmässig, trainieren und werden schneller. Aber Glaube ist weder eine Fähigkeit noch ein Muskel! Die Vorstellung von Menschen mit einem «starken Glauben» ist ein Trugbild. Das einzige Mal, wo dieser Begriff in der Bibel vorkommt, knüpft Paulus damit an die Selbstüberschätzung einiger Christen in Rom an und beschreibt keinen echten Glaubensstand. Glaube bzw. Vertrauen beschreibt unsere Verbindung zu Gott, nicht unser Handeln. Natürlich kann diese Beziehung zu Gott soll auch wachsen. Aber das hat mehr damit zu tun, wer wir sind, als damit, was wir tun.
Jesus sagt hier nicht: Ihr habt zu wenig Glauben. Er sagt auch nicht: Seht zu, dass euer Glaube wächst. Stattdessen betont er: Lebt in der Vollmacht Gottes, die ihr schon habt! Seid jeden Tag barmherzig, tröstet andere im Namen von Jesus, entwickelt Selbstdisziplin, korrigiert Menschen im Namen Gottes, lebt in der Wahrheit, verbreitet Hoffnung und Freude. Und seid offen dafür, dass Gott in seiner erstaunlichen Macht eingreift und die Welt verändert – sogar durch uns.
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