Leben teilen in der Vesperkirche
Vor dem Kirchenportal steht ein Schild: «Alle sind willkommen: Diskriminierung, Diebstahl und sexueller Missbrauch werden nicht toleriert.» Beim Betreten der Kirche schlägt dem Besucher Wärme, der Duft von Maultaschen und die Geräuschkulisse angeregter Gespräche entgegen. Menschen jeden Alters sitzen an Tischen beisammen, geniessen ein schwäbisches Gericht und unterhalten sich. Im Seitenschiff des Kirchenraums ist ein langes Buffet aufgebaut, an dem die Gäste für einen symbolischen Euro ein warmes Mittagessen erhalten und sich ein Vesper, also ein Lunchpaket, für den Abend mitnehmen dürfen. Von der Kanzel wird gerade wie jeden Mittag um Punkt zwölf Uhr eine kurze Andacht verlesen. Danach folgen die Abkündigungen: Heute kommt die Fusspflegerin, am Sonntagnachmittag wird der aus Freunden der Vesperkirche bestehende Chor «Rahmenlos und frei» auftreten. Eintritt frei!
Menschen, die sich sonst nicht begegnen, sollen an einem Ort zusammenkommen, um miteinander zu leben: Das ist die Vision der Vesperkirche. Diakon Martin Friz sprach diesen Gedanken 1994 aus und bereits wenige Monate später öffnete die Vesperkirche zum ersten Mal ihre Tore. Damals nahmen rund 70 Menschen pro Tag dankbar ein Mittagessen entgegen, diesen Winter werden es voraussichtlich täglich bis zu 800 Menschen sein. Leben teilen – dieser Grundgedanke besteht bis heute. Deswegen ist die Vesperkirche weit mehr als eine Armenspeisung. Neben einem warmen Mittagessen wird dort Fusspflege und ärztliche Behandlung angeboten. Einmal pro Saison gibt es eine Tierimpfung für vierbeinige Begleiter und jeden Sonntag um 16 Uhr ein kulturelles Programm. Ausserdem bietet die offene Kirche Zeit und Raum für Gespräche.
Mehr als genug Ehrenamtliche
Die Leonhardskirche liegt ein wenig ausserhalb der ehemaligen Stadtmauer nur wenige Gehminuten von der Einkaufsmeile «Königstrasse» entfernt am Rande des Rotlichtviertels. Heute hat Pfarrerin Gabriele Ehrmann die Federführung der Vesperkirche, unterstützt von einem Team aus den Diakonen Kurt Klöpfer und Elmar Bruker, sowie einem engagierten Küchenteam unter der Leitung von Marc Striffler. Hinzu kommen hunderte ehrenamtliche Helferinnen und Helfer: Schulklassen machen mit der Religionslehrerin einen Ausflug in die Vesperkirche und schmieren drei Stunden lang Brote fürs «Vesper», Rentnerinnen und Rentner stellen ihre Zeit zur Verfügung und die Studierenden der nahegelegenen Uni kommen in ihrer Mittagspause vorbei. Bereits wenige Wochen nach dem Öffnen der Kirchentüren ist die Liste der ehrenamtlichen Helferinnen regelmässig überfüllt – keine weiteren Helfer werden benötigt. Wer das Projekt dennoch unterstützen möchte, kann dies gerne in Form von Spenden tun.
Die nächste Vesperkirche Stuttgart wird vom 19. Januar bis 8. März 2025 stattfinden.
Mehr solche Impulse vom Magazin andersLeben? Gönne dir oder Freunden jetzt einen günstigen Jahresabogutschein des Magazins hier.
Zur Website:
Vesperkirche.de
Zum Thema:
Die Outdoor-Gemeinde: Weil die Obdachlosen nicht in die Kirche kamen...
Gottesdienst mit Raucherpause: Eine Gemeinde für Zuhälter und Prostituierte
Früher selbst auf dem Strich: Heute erzählt sie Prostituierten von Jesus