Auf dass weniger sterben
Die Bilder bringt man nicht so schnell aus dem Kopf: Ein grosses Passagierflugzeug rollt in Kabul los, und viele verzweifelte Personen klammern sich daran fest, wollen irgendwie noch wegfliegen; vor der Taliban-Regierung flüchten… So dramatisch kann sich Flucht gestalten und im Tod enden.
Am 16. Juni ist internationaler Flüchtlingstag, den auch die «offene kirche bern» mit einem Gottesdienst hochhält. Die Aktion «Beim Namen nennen – über 60'000 Opfer der Festung Europa» gedenkt seit 2019 den Menschen, die auf dem Weg nach Europa gestorben sind und protestiert gegen ihren Tod. Ihre Namen werden gelesen, auf weisse Stoffstreifen geschrieben und an die Fassade der Heiliggeistkirche gehängt.
Wie Besucher berührt, viele Seelsorgegespräche ausgelöst werden und welche Aktionen geplant sind, zeigt das Interview mit Andreas Nufer.
Die Kirche als Sprachrohr und sicherer Hafen
Im Jahr 2023 sind nach UN-Angaben weltweit so viele Menschen auf der Flucht gestorben wie seit Beginn der Erhebung im Jahr 2014 nicht. Es sind mindestens 8'565 Personen. Menschen mussten ihre Heimat verlassen, weil sie vor Kriegen, Konflikten, Verfolgung oder anderen lebensbedrohenden Umständen flüchten. Sie verloren ihr Leben auf der Suche nach einem geschützten Ort.
Die Reform des «Gemeinsamen Europäischen Asylsystems» (GEAS) vom Dezember 2023 sieht gleichzeitig Verschärfungen für geflüchtete Personen vor. Die Schweiz setzt die Dublin-Verordnung sehr oft strenger durch als sie müsste und strenger als andere europäische Staaten. Sie schickt auch vulnerable Personen wie Kinder, Kranke, Schwangere oder ältere Menschen in das Land der ersten Anlaufstelle zurück. Zum Beispiel nach Kroatien.
Livenet war mit Andreas Nufer (59), Pfarrer und Projektleiter der Heiliggeistkirche Bern, im Austausch.
Aktionen sind jeweils punktuell, wie sehen Ihre Angebote diesbezüglich während des Jahres aus?
Andreas Nufer: In unserer Gemeinde und vielen Partnerorganisationen sind Geflüchtete ein Teil der Mitarbeitenden oder Mitglieder. Manche suchen uns für Beratungen oder Seelsorge auf. Immer wieder gibt es gemeinsame Veranstaltungen, wie zum Beispiel Mittagstische oder das Festival der Kulturen.
Die Kirche ist bekannt für ihren Einsatz für das menschliche Leben, wie könnte sie dem Flüchtlings-Sterben noch mehr entgegenwirken?
Aktuell und seit vielen Jahren werden Flüchtlinge und Migrantinnen von einem Teil der Gesellschaft als Sündenböcke für fast alles dargestellt. Hier ist es die Aufgabe der Kirchen, mit vielen anderen zusammen, sachlich zu bleiben und die Relationen zu wahren. Aus christlicher Sicht ist jeder Mensch ein Mensch, unabhängig von Status, Herkunft und Hautfarbe. Und jeder einzelne Mensch hat als Ebenbild Gottes eine Würde. Deshalb hat jede und jeder auch Rechte. Das gilt es immer wieder zu betonen und auch zu leben.
Am wirksamsten sind aus unserer Erfahrung gelebte Beziehungen und Begegnungen auf Augenhöhe. Konkret haben wir dieses Jahr ein Manifest lanciert, das unterstreicht, dass die Rechte auch an den europäischen Aussengrenzen für jede und jeden gelten müssen. Das neue «gemeinsame europäische Asylgesetz» stellt diesen Grundsatz in Frage. Das können wir aus christlicher Perspektive nicht akzeptieren.
Welche christlichen oder biblischen Bezüge ziehen Sie zur Thematik?
Da gibt es ganz viele Bezüge. Ich würde drei hervorheben:
1. Wir alle sind Ebenbilder Gottes und deshalb ist die Würde des Individuums unteilbar.
2. Christus ist am Kreuz für uns alle gestorben, nicht nur für eine spezielle Gruppe.
3. Der Heilige Geist wohnt in jedem und jeder von uns und schenkt Zuversicht und Hoffnung, auch wenn die Welt düster scheint.
Die Aktion «Beim Namen nennen» ist eine Gedenkaktion, wie es sie in den Kirchen schon lange in verschiedensten Formen gibt. Wenn wir die Namen der Verstorbenen lesen, tun wir das nicht fürs Publikum, sondern vor Gott und im Gedenken an das Schicksal einzelner Personen und ihrer Familien und Freunde. Deshalb ist das Lesen der Namen während 24 Stunden fast wie ein Gebet und hat einen tief mystischen Aspekt.
Wie könnte die Würde des Menschen gestärkt oder bewahrt werden?
Indem wir uns gegenseitig ernst nehmen, wie wir sind und uns gemeinsam an die grossen Errungenschaften der europäischen Gesetzgebungen halten, wie zum Beispiel der Genfer Flüchtlingskonvention.
Erzählen Sie uns gern eine Hoffnungsgeschichte, was die Aktions-Tage bewirken können?
Mit der Aktion «Beim Namen nennen» erreichen wir direkt und indirekt sehr viele Menschen, die sonst mit der Kirche kaum Kontakt haben. Viele werden dadurch für das Drama an Europas Aussengrenzen sensibilisiert und stimmen mit uns überein, dass es die Rolle der Kirchen ist, daran zu erinnern – selbst dann, wenn sich in der Politik wenig ändert. Sehr viele Menschen bedanken sich bei uns, dass wir die Aktion durchführen. Es kam zum Beispiel eine junge Frau zusammen mit ihrer Grossmutter und sagte: «Wir sind beide keine Kirchgängerinnen, aber wir wollen uns an der Aktion beteiligen. Meine Grossmutter möchte Namen lesen und ich möchte mich als IT-Fachfrau freiwillig im Projekt engagieren.»
Gleichzeitig löst die Aktion immer wieder überdurchschnittlich viele Seelsorgegespräche aus. Offenbar löst das unsagbare Leid der toten Flüchtlinge aus, dass Menschen über ihre eigenen Schmerzen sprechen können. Dabei werden immer wieder Themen wichtig, die auf den ersten Blick gar nichts mit Flüchtlingen zu tun haben, aber am Schluss Solidarität auslösen.
Mehr Infos und Details zu den Aktionen vom 31. Mai bis 16. Juni:
Beim Namen nennen
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