Wo Zukunft wachsen kann
2003 gründete der Sozialpädagoge Tobias Merckle in Leonberg bei Stuttgart das Seehaus. Hier werden verurteilte Straftäter im Alter zwischen 14 bis 23 Jahren in einem ein- bis zweijährigen Erziehungsprogramm auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereitet. Die Mitarbeitenden des Seehauses sind engagierte Mitglieder von landes- und freikirchlichen Gemeinden. Die Sozialpädagogen leben in drei Wohngruppen mit bis zu sieben Jugendlichen zusammen. Das Erziehungsprogramm umfasst neben schulischer Bildung, Berufsfindung und sozialem Training auch die Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben. Bisher wurden 43 Jugendliche betreut, von denen die meisten einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz fanden. Einige kehrten jedoch freiwillig ins Gefängnis zurück, weil ihnen das Leben im Seehaus zu anstrengend war.
Christopher Zehender und Susanne Ospelkaus beschreiben in ihrem Buch «Wo Zukunft wachsen kann» die Lebensgeschichten von Jugendlichen und Frauen, die dank des Engagements des Seehaus-Teams den Weg in ein eigenständiges Leben gefunden haben oder dahin unterwegs sind. Sie machen Mut, nicht aufzugeben, kleine Schritte in die richtige Richtung zu wagen, sich helfen zu lassen. Von Menschen und Jesus.
«Ein Teil meiner Seele ist damals gestorben»
«Wir haben gemeinsam Mist gemacht», erzählt Marc in dem Buch. Als er in die Pubertät kommt, probiert er mit einigen Klassenkameraden den ersten Joint. Später kommen Alkohol, Speed und Ecstasy dazu. Nie übermässig viel, aber so, dass ihn dieses Leben neben seiner bürgerlichen Existenz immer mehr gefangen nimmt. Schliesslich zieht sein alleinerziehender Vater die Reissleine, schickt Marc ins Internat. Doch auch hier trifft er Kumpels, mit denen er sich dank Alkohol, Drogen und gelegentlichen Schlägereien seinen Alltag aufpeppt. Und dann eskaliert ein Konflikt zwischen Marc und einem Bekannten. Marc hat ein Messer dabei, und plötzlich liegt der andere blutüberströmt am Boden. Marc wird festgenommen und kommt ins Gefängnis. «Ein Teil meiner Seele ist damals gestorben», seufzt er rückblickend. Sein Gegner ist an den Folgen der Verletzungen gestorben.
Seehaus statt Jugendstrafanstalt
Schon während der fast zehn Monate dauernden Untersuchungshaft kommt Marc mit Mitarbeitenden des Seehauses in Kontakt. Sie bieten ihm an, seine Strafe in Gemeinschaft mit anderen jugendlichen Delinquenten in Leonberg zu verbringen. Er wird die Wohnung mit ihnen und Hauseltern teilen und klaren Regeln folgen. Gespräche, eine Berufsausbildung, Sport und Spiele gehören dazu. Marc nimmt das Angebot an. Zehn Jahre später hat er eine abgeschlossene Lehre als Zimmermann und die Weiterbildung zum Techniker aufzuweisen. Er steht mit beiden Beinen im Leben.
Mit Gott und seiner Realität hat sich Marc im Seehaus auch oft beschäftigt. Die konsequente und offene Art, wie der Glaube im Seehaus gelebt wird, beeindruckten ihn. «Ich habe dem Glauben eine Chance gegeben und bin bis heute offen dafür», sagt er. Besonders berührt habe ihn, dass Tobias Merckle, der Gründer des Seehauses, mitten ihn der Nacht zum ihm auf einen Parkplatz gekommen sei. Sein Kumpel und er hätten gespürt, dass sie in grosser Gefahr schwebten, rückfällig zu werden und die Bewährung zu verlieren. «Tobias hat mit uns geredet bis die Sonne aufgegangen ist», erinnert sich Marc. Er resümiert: «Ohne das Seehaus würde es mein jetziges Leben nicht geben.»
Missbrauch
Zum Angebot des Seehauses gehört auch die Möglichkeit einer externen Opfer- und Traumaberatung. Hier begleitet Ingrid Steck Hannah über zwei Jahre und hilft ihr, ihre Bedürfnisse zu benennen, Wünsche auszusprechen, Fortschritte wahrzunehmen und Grenzen zu setzen. Hanna wurde seit ihrer Teenagerzeit bis ins Erwachsenenalter vom Musiklehrer sexuell missbraucht. Später heiratet sie, bekommt zwei Kinder, wird von ihrem Mann beschützt. Doch dann wird er immer übergriffiger und gewalttätiger, sie flüchtet schliesslich ins Frauenhaus. Eine jahrelange Psychotherapie hilft ihr, den Alltag zu bewältigen und schliesslich Frieden zu schliessen mit dem Vater ihrer Kinder und der Herkunftsfamilie.
Vergebung ist der Schlüssel
Doch die Wut tief in ihrem Inneren ist nicht weg. Sie sucht erneut Hilfe und findet sie bei Ingrid Steck. Während ihrer Beratung begreift sie, dass sie sich verändern kann. Vergebung sei ein innerer Weg, um nachhaltig Frieden zu finden, erfährt sie. Sie entscheidet sich dafür, damit die Bitterkeit nicht ihre Zukunft zerstört. Verse aus der Bibel oder Zitate von Viktor Frankl helfen ihr dabei. Sie fühlt sich dann mit deren Lebensgeschichten verbunden und getröstet. Heute weiss sie: «Es gibt einen Weg heraus aus dem Schmerz. Ich bin unterwegs.»
Zum Buch:
Wo Zukunft wachsen kann
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