«Der Neue Atheismus ist zusammengebrochen»
«Ich wusste, dass sich etwas geändert hatte, als ich 2018 eine überraschende E-Mail des atheistischen Denkers Peter Boghossian erhielt. Ich konnte kaum glauben, was ich da las», erinnert sich der Autor Justin Brierley (er verfasste soeben das Buch «The Surprising Rebirth Of Belief In God: Why New Atheism grew old and secular thinkers are considering Christianity again»).
Zu diesem Zeitpunkt war Boghossian Professor für Philosophie an der «Portland State University». Als er vier Jahre zuvor bei einer Podcast-Debatte über den christlichen Glauben dabei war, äusserte er sich komplett antireligiös. Und sein Buch «A Manual For Creating Atheists» beinhaltete eine ganze Reihe von Strategien, um religiösen Menschen ihren Glauben auszureden.
«Sie werden überrascht sein…»
Justin Brierley lud nun also Peter Boghossian vier Jahre später erneut zu einem Dialog ein. Doch dann erhielt er eine verblüffende Antwort: Boghossian schrieb, dass er sich nicht mehr an Debatten gegen Christen beteilige. «Sie werden überrascht sein, wie viel ich jetzt mit Ihnen gemeinsam habe.»
Sein Fokus habe sich auf die Abwehr einer weitaus gefährlicheren Bedrohung verlagert, über die er bald mehr preisgeben wollte. Bald danach wurde klar, was er damit gemeint hatte: Zusammen mit zwei anderen Professoren deckte Peter Boghossian auf, wie bestimmte Ideologien den Universitätscampus übernahmen und die akademische Freiheit unterdrückten, indem diejenigen gecancelt wurden, die nicht damit einverstanden waren.
Christen sah er nun als Verbündete an. Er war immer noch Atheist, aber sein Ton hatte sich dramatisch verändert.
Schrille Dogmen verblassen
Justin Brierley startete die Glaubensdiskussion «Unbelievable?» Mitte der 2000er-Jahre im britischen «Premier Christian Radio»; in dieser Zeit nahm gerade der Neue Atheismus Fahrt auf. «Wir führten in erster Linie kämpferische Debatten zwischen glühenden Atheisten und christlichen Denkern.»
Aber im Laufe der Jahre änderte sich die Tonart. Atheisten und Agnostiker, die in der Sendung auftraten, grenzten sich vermehrt vom Neuen Atheismus ab. «Ich bin kein Atheist vom Typ eines Richard Dawkins», lautete bei vielen der Tenor. Die atheistischen und christlichen Gäste schienen stattdessen zunehmend mehr Gemeinsamkeiten in kulturellen und sozialen Fragen zu haben.
Justin Brierley: «Ich spürte, dass die Öffentlichkeit des schrillen Dogmatismus der Neuen Atheisten überdrüssig wurde. Der Neue Atheismus schien einen inneren Zusammenbruch zu erleben. Einige störten sich daran, dass eine Phalanx ‘alter weisser Männer’ den Neuen Atheismus anführten. Die Splitterbewegung ‘Atheism+’ forderte LGBT-Rechte, Feminismus und Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Andere wiederum reagierten heftig dagegen, dass politisch korrekte Ideologien die Bewegung überrollten.»
Bewegung zerstritten
Viele der wichtigsten Stimmen der Bewegung zerstritten sich, atheistische Konferenzen wurden abgesagt, da sich manche Redner die Bühne nicht teilen wollten.
Im Jahr 2021 wurde Dawkins von der «American Humanist Association» die Auszeichnung «Humanist des Jahres» aberkannt, weil er die Transgender-Ideologie kritisiert hatte. «Es besteht kein Zweifel, dass ein starker Gerechtigkeitssinn solche Anliegen motiviert», analysiert Justin Brierley. «Doch sie nehmen oft auch eine fast-religiöse Bedeutung an. Es geht dabei nicht nur um die progressive Linke. Das gleiche quasi-religiöse Gefühl findet man auch im konservativen Nationalismus und in rechten Verschwörungstheorien.»
Immer an etwas glauben
Menschen hören nicht auf, religiös zu sein, wenn sie die christliche Geschichte abstreifen, sondern sie werden religiös bezüglich anderer Dinge. Justin Brierley erklärt: «Wir sind sinnsuchende Geschöpfe. Wir brauchen eine Geschichte, nach der wir leben können. Und wenn die christliche Geschichte, die jahrhundertelang Individuen und ganzen Kulturen einen Sinn und eine Richtung gab, verschwindet, werden die Menschen etwas anderes suchen, um die Lücke zu füllen.»
Doch diese neuen Ideologien stehen oft im Widerspruch zueinander. Diejenigen, die den Neuen Atheismus anführten, reden nicht mehr über Religion. «Peter Boghossian findet sich nun unter den ‘Anti-Wokes’ wieder und kämpft gegen neue Quasi-Religionen, von denen er glaubt, dass sie eine grössere Bedrohung für Wissenschaft und Vernunft darstellen, als es die Bibel je war.»
Die neue Sinnkrise
Als der Neue Atheismus aus dem Blickfeld verschwand, hinterliess er viele säkulare Menschen, die immer noch nach intelligenten Antworten auf die tiefsten Fragen des Lebens suchten. «Der Aufstieg der sozialen Medien und die Kulturkämpfe zeigen, wie sich das Entstehen einer ‘Sinnkrise’ in der jungen Generation beschleunigt. Trotz unseres materiellen Komforts und unserer technologischen Errungenschaften sind Angstzustände, Depressionen und psychische Probleme auf einem Allzeithoch.»
Justin Brierley beobachtet, dass eine neue Generation säkularer Denker auftaucht, die bereit ist, das Christentum als eine Möglichkeit anzuerkennen, durch welches Sinn gefunden werden kann. «Gott ist wieder im Spiel!»
Brierley verweist auf den kanadischen Psychologieprofessor Jordan Peterson, der betont, «dass der Schöpfungsbericht in der Genesis – in der Männer und Frauen nach dem Ebenbild Gottes geschaffen werden – die einzige Geschichte ist, die unseren Glauben an die Würde und den Wert des Menschen begründet».
Immer mehr Intellektuelle würden mit dem christlichen Glauben sympathisierten. Viele seien nicht konventionell religiös, hält Brierley fest: «Ihre Schlussfolgerungen beruhen auf säkularer Forschung und Reflexion, nicht auf einem Bekenntnis zum Christentum. Und doch sind dies jetzt die Stimmen, denen sich intellektuell Suchende zuwenden, um dem Leben einen Sinn zu geben. Es ist salonfähig geworden, die christliche Geschichte wieder ernst zu nehmen.»
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