Auf den Spuren eines Heilsarmee-Offiziers

Heilsarmee-Offizier Fredi
Regisseur Thomas Thümena taucht in «Himmel über Zürich» in unterschiedliche Lebensrealitäten im Zürich von heute ein. Auf den Spuren des Heilsarmee-Offiziers Fredi entwirft er ein Grossstadtporträt. Der Film kommt am 30.11. in Deutschschweizer Kinos.

In der Adventszeit werden sie jeweils sichtbar, die uniformierten Mitglieder der Heilsarmee, wenn sie auf belebten Strassen und Plätzen Weihnachtslieder singen und Geld für Bedürftige sammeln. «Keine Tränen mehr, wenn wir unseren König sehn», schmettert eine kleine Gruppe von Heilsarmisten zu Beginn von «Himmel über Zürich» über den abendlichen Paradeplatz, und die Säckel füllen sich dabei ordentlich. Inmitten des vorweihnächtlichen Trubels ruht hier, so scheint es, eine Insel der Glückseeligen.

Wer sind diese Menschen, die das erlösende Jenseits besingen? Und was tun die Mitglieder der christlichen Freikirche, wenn sie nicht im Zentrum der Stadt sichtbar sind? Auf den Spuren des Heilsarmee-Offiziers Fredi taucht der Zürcher Filmemacher Thomas Thümena in unterschiedliche Lebensrealitäten im schicken Zürich von heute ein. Mit der Kamera auf der Schulter begleitet er den ausgebildeten Elektriker, der sich selber mit Schmunzeln als «Lichtbringer» bezeichnet, auf Hausbesuchen bei bedürftigen Menschen, an Anlässen der freikirchlichen Gemeinde im Zentrum Zürich-Nord oder bei der Verteilung von Essensgutscheinen an Menschen am Rande der Gesellschaft. Fredi, sagt ein Kirchenmitglied, sei «ein Herz von einem Menschen». Der im Berner Oberland in einer Heilsarmee-Familie aufgewachsene Zentrumsleiter beschreibt sich selber als gesegnet.

In der Bibel, sagt er, finde er Antworten und inneren Halt. An der Aussenwand des Zentrums proklamiert ein Banner die Mission der Heilsarmee: «Hören, beten, hoffen, tun».

Skeptisch gegenüber dem Heilsversprechen

Die Menschen auf der Gasse, denen das seelsorgerische Wirken der weltweit tätigen «Salvation Army» zugute kommt, stehen dem christlichen Heilsversprechen allerdings skeptisch gegenüber. Die Erfahrungen, die sie im Leben gemacht haben, und die nackte Realität von Sozialhilfeempfängern rücken andere Bedürfnisse in den Vordergrund. Da ist Jürg, der nach dem frühen Tod der Eltern in Heimen aufgewachsen ist und mit dem «ganzen Zeugs von Himmel und Hölle» Mühe hat. Das alles, sagt der kritische Geist, diene doch nur dazu, Leute gefügig zu machen. Da ist Josef, ein Verdingkind, das sich als Marktfahrer durchgeschlagen und sich einen wunderbaren Humor bewahrt hat. Auf die Frage Fredis, was er sich von der Zukunft erhoffe, entgegnet er nur, er erwarte schon lange eine Million. Und da ist Jacky, der vorrechnet, dass für einen Obdachlosen 12 Franken Sackgeld pro Tag nicht eben viel sind.

Diese unterschiedlichen Haltungen lässt «Himmel über Zürich» unkommentiert nebeneinanderstehen. Wahrheit, so die Aussage, ist eine Frage der Perspektive. Umso eindringlicher lotet der Film visuell den Gegensatz zwischen der reichsten Stadt der Schweiz auf der einen und den prekären Lebensbedingungen seiner Protagonisten auf der anderen Seite aus.

Den mit Handkamera gedrehten Szenen mit Jürg, Josef oder Jack, die den Alltag auf der Gasse würdevoll dokumentieren und um Bilder der Unbehaustheit ergänzen – verlassene Tramstationen oder menschenleere Bahnhöfe – stehen ästhetische Totalen aus Zürich-West gegenüber: der Maag-Tower bei Nacht mit seiner glitzernden Fassade oder die schwungvollen Autobahnauf- und abfahrten der Hardbrücke. Es sind Sinnbilder der wirtschaftlichen Himmelsstürmer, die heute den Ton angeben. Machtbewusst, leuchtend, dynamisch. Dazwischen geschnitten sind Aufnahmen des Himmels mit aufsteigenden Flugzeugen oder Möwenschwärmen. Unweigerlich stellt sich die Frage ein, wem dieser Himmel denn gehört. Den Gläubigen, den Reichen oder vielleicht doch denjenigen, die im Hier und Jetzt zu kurz kommen?

Raum für einen eigenen Standpunkt

Thomas Thümena zeigt mit «Himmel über Zürich» ein sozial engagiertes Grossstadtporträt, das existenzielle Themen nach Glauben, Lebenssinn oder Gerechtigkeit implizit an- und abklingen lässt. Dafür lässt es dem Zuschauer umso mehr Raum für einen eigenen Standpunkt. Im Titel seines Dokumentarfilms schwingen andere Titel der Film und Kulturgeschichte mit: «Der Himmel über Berlin» (1987), Wim Wenders ikonischer Vorwendeessay mit Bruno Ganz und Otto Sander in den Hauptrollen. Oder das von Zarli Carigiet, einem der grossen Schweizer Dialektschauspieler der 1950er Jahre interpretierte Lied «Miis Dach isch dr Himmel vo Züri». Im Drama «Hinter den sieben Gleisen» (1959), in dem Carigiet einen Clochard verkörpert, hat die Obdachlosigkeit dem damaligen Zeitgeist entsprechend eine romantische Note.

Von diesen filmischen Fiktionen unterscheidet sich Thomas Thümenas dokumentarischer Ansatz durch seinen Realismus. Dies nicht zuletzt aufgrund der äusseren Einwirkungen während der Drehzeit, zuerst der Pandemie und anschliessend der russischen Invasion in der Ukraine. Mit der Einbindung von Szenen, die Flüchtlinge bei der Ankunft im Hauptbahnhof Zürich zeigen, erhält «Himmel über Zürich» eine durch die Aktualität verschärfte Dringlichkeit. Unerwartet wird der Zürcher Film so auch zum Zeitdokument eines globalen Umbruchs.

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Himmel über Zürich

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Autor: Nuria Gysin
Quelle: Outside the Box

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