Rund 50'000 Begegnungen bei schweren Situationen
Kari-Anne Mey, Sie haben kürzlich eine Pressemitteilung mit einem Einblick in das Jahr 2022 verschickt – welche Bilanz zieht Solidara Zürich für das vergangene Jahr?
Kari-Anne Mey: Die Angebote von Solidara Zürich waren auch letztes Jahr stark gefragt. Wir haben 25'166 Mahlzeiten umsonst abgegeben und über 12’400 Beratungen durchgeführt. Insgesamt hatten wir über 48'000-mal Kontakt mit Menschen, die sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden.
Solidara Zürich bietet durch verschiedene Arbeitszweige Hilfestellung; können Sie diese kurz vorstellen?
Solidara Zürich wurde 1862 als Zürcher Stadtmission gegründet. Von Anfang an stand der Mensch im Mittelpunkt und die Sorge um sein Wohlergehen. Heute führt Solidara Zürich zwei Angebote:
Das Café Yucca. Seit 50 Jahren ist das Café Yucca ein sicherer Hafen für Menschen, die sonst nirgends hinkönnen. Gegründet wurde es als Jugendcafé, zu einer Zeit, als es in Zürich für junge Leute kaum Treffpunkte gab. Mit der Zeit wurden die Gäste älter und es kamen Leute aus allen Altersgruppen. Im Café Yucca finden unterschiedliche Menschen einen sicheren Hafen: Der vereinsamte Sozialhilfe-Bezüger, die psychisch belastete IV-Empfängerin, Menschen ohne Obdach, Personen, die auf Arbeitssuche in Zürich gestrandet sind. Für Hungrige steht immer ein grosser Topf mit Gratis-Suppe auf dem Herd. Wer Rat braucht, kann sich ohne Anmeldung an die Sozialarbeitenden des Yucca-Teams wenden. Für Personen in einer existenziellen Notlage organisiert das Team Verpflegung, medizinische Versorgung, saubere Kleidung und Schlafsäcke. Das Café Yucca ist täglich geöffnet, auch am Abend, während dem Wochenende und an den Feiertagen.
Das zweite Angebot ist Isla Victoria, Beratungsstelle für Sexarbeitende. Seit Beginn engagiert sich die Solidara Zürich für Menschen, die im Erotikgewerbe arbeiten. Isla Victoria hat in der Stadt Zürich und in Winterthur Standorte. Am Zürcher Standort können sich die Sexarbeitenden zu Fragen des Aufenthalts, Soziales, Arbeitsrecht und Gesundheit niederschwellig beraten lassen. Drei Mal in der Woche gibt es ein feines und günstiges Mittagessen. Das Isla-Team leistet auch aufsuchende Sozialarbeit und Beratung zu gesundheitlichen Themen in den Erotikbetrieben der Stadt und im Kanton Zürich. Das Isla-Team führt regelmässige Test auf sexuell übertragbare Infektionen durch, am Standort Zürich oder mobil in den Erotikbetrieben.
Können Sie ein, zwei Lebensgeschichten mit uns teilen, bei denen Menschen durch Ihre Arbeit verändert worden sind?
Zur Beratungsstelle Isla Victoria kam im Herbst 2022 eine Klientin, die sich im Meldeverfahren (90-Tage Bewilligung) als Sexarbeiterin registrieren wollte. Das Isla-Team reichte zusammen mit der Klientin den Antrag beim AWA (Amt für Wirtschaft und Arbeit) ein. Dabei merkten wir jedoch, dass die Klientin ihre Ausweisdokumente nicht auf sich trug, sondern dass diese immer im Besitz ihrer guten «Freundin» waren, welche während der Beratung nicht von ihrer Seite wich. Bei einer solchen Situation werden wir hellhörig: Dies kann ein Hinweis auf eine Ausbeutungssituation sein, da sich die gute «Freundin» im Nachhinein oft als Zuhälterin entpuppt.
Da wir in der Isla Victoria immer wieder Tests auf Geschlechtskrankheiten durchführen, empfahlen wir dem möglichen Opfer und der «Freundin», sich testen zu lassen. Es stellte sich heraus, dass das mögliche Opfer eine Geschlechtskrankheit hat, welche behandelt werden musste. Eine Pflegefachfrau und eine Sozialarbeiterin vom Team Isla Victoria brachten sie zur Behandlung ins Check-in Zollhaus - die «Freundin» unserer Klientin war wieder dabei. Wir erklärten der «Freundin», dass sie während der Behandlung draussen warten müsse.
Die Sozialarbeiterin klärte die Klientin in deren Muttersprache über ihre Rechte und die Angebote von Isla Victoria auf und erzählte ihr von anderen Hilfsangeboten. Im Gespräch stritt die Klientin ab, ausgebeutet zu werden. Dennoch hat sie das Angebot der Isla Victoria kennengelernt und verstanden. Die Klientin hat auch gemerkt, dass wir das Amtsgeheimnis wahren und dass wir ihrer «Freundin» nichts weitererzählen. So wird die Klientin hoffentlich langsam Vertrauen in uns gewinnen. Es kann sein, dass sie bald die Möglichkeit hat, bei uns im Beratungsbüro allein Kondome zu holen, da ihre «Freundin» gemerkt hat, dass wir nicht gegen sie vorgehen.
Sollte unsere Klientin eines Tages zu uns kommen und bestätigen, ausgebeutet zu werden, können wir sie mithilfe einer Sondereinheit der Polizei aus der Ausbeutungssituation holen und sie in einem Schutzhaus unterbringen.
Welche Rolle spielt der Glaube im Alltag?
Solidara Zürich wird ökumenisch von den Zürcher Kirchen unterstützt und hat seit Mai 2023 die Israelitische Cultusgemeinde als Mitglied aufgenommen. Unser Engagement basiert auf religiösen Werten, es steht allen Menschen Wert und Würde zu. Aus unseren Statuten: «Der Verein betreibt keine Glaubensmission und respektiert die Glaubenshaltung und Religionszugehörigkeit jedes Einzelnen.»
Gibt es neue Projekte, die bei Ihnen anstehen?
In unserer Beratungsstelle Isla Victoria entwickeln wir ein neues Projekt: Isla Victoria JobLab & Perspektiven. Es geht um Unterstützung für Sexarbeiterinnen, die sich beruflich neu orientieren oder ihre Alltagskompetenzen erweitern wollen. Rund 90 Prozent der Klientinnen von Isla Victoria befinden sich in belasteten Lebensumständen. Bei vielen hat sich die persönliche und wirtschaftliche Situation durch die Corona-Pandemie dauerhaft verschlechtert. Der Wunsch nach einer anderen Tätigkeit wird daher öfter als früher an unser Beratungsteam herangetragen.
Solidara Zürich kümmert sich bereits seit über 160 Jahren um Sexarbeiterinnen, welche sich beruflich ganz oder teilweise neu orientieren wollen. Wir zeigen den Klientinnen Perspektiven auf und unterstützen sie bei Bewerbungen, seit langem. Schon im Jahr 2008 hat das Team Isla Victoria rund 300 Bewerbungen für Stellen ausserhalb des Sexgewerbes geschrieben, zum Beispiel für Jobs in der Reinigungsbranche. Wir fördern unsere Zielgruppe beim Erlernen der Kompetenzen, welche im Bewerbungs-Alltag unentbehrlich sind.
Was bewegt Sie persönlich bei Ihrer Arbeit besonders?
Die Menschen, die wir mit unseren Angeboten unterstützen, erhalten keine gesellschaftliche Anerkennung. Es sind «die Anderen» - Obdachlose, Bezüger von IV oder Sozialhilfe, psychisch Belastete, Sexarbeiterinnen. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass es jeden treffen kann: Ein Schicksalsschlag, eine Krankheit oder - wie im Fall der Sexarbeiterinnen - das falsche Geburtsland kann bedeuten, dass man sich am sogenannten Rand der Gesellschaft wiederfindet. Mein Anliegen ist es, sie in unserer Kommunikation als handelnde Subjekte mit ihrer eigenen Geschichte zu zeigen. Im Sinne von «Die anderen sind wir».
Zur Website: Solidara Zürich
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