Auseinandersetzung mit Sterblichkeit bereichert das Leben

Der Friedhof der Marienkirche von Lantsch/Lenz (GR) gilt als einer der schönsten Europas.
Mut zur Endlichkeit – ein Thema, das uns alle betrifft, dem sich jedoch nur wenige wirklich stellen. Warum scheuen wir uns davor, unsere eigene Vergänglichkeit und die damit verbundenen schwierigen Themen ins Auge zu fassen?

Die psychologische Erklärung liegt tief in unseren menschlichen Abwehrmechanismen verankert. Wir neigen dazu, unbequeme Wahrheiten zu vermeiden, aus Angst vor dem Unbekannten, vor emotionalem Schmerz und vor der Erkenntnis unserer eigenen Zerbrechlichkeit. Doch gerade die Konfrontation mit der Endlichkeit kann unser Leben transformieren, uns helfen, die wesentlichen Dinge zu schätzen, und uns ermutigen, bewusster zu leben.

Die Psychologie der Vermeidung

Menschen meiden schwierige Themen oft aus psychologischen Abwehrmechanismen wie Vermeidung und Verdrängung. Diese Mechanismen schützen uns vor emotionalem Schmerz und psychischer Belastung. Doch in einer Welt voller Herausforderungen ist es entscheidend, sich diesen Themen mutig zu stellen. Die Vermeidung hindert uns daran, wertvolle Einsichten zu gewinnen, die unser Leben bereichern könnten.

Die Angst vor dem Unbekannten ist ein Hauptgrund, warum wir uns weigern, uns mit unserer Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Diese Angst führt dazu, dass wir unsere Vergänglichkeit verdrängen, statt sie zu akzeptieren. Auch die Angst vor emotionalem Schmerz spielt eine Rolle: Der Gedanke an Verlust, Krankheit und Tod kann uns emotional überwältigen und dazu bringen, diesen Themen auszuweichen.

Der amerikanische Psychotherapeut Irvin D. Yalom beschreibt in seinem Buch «Existenzielle Psychotherapie» die Angst vor der Endlichkeit als eine der grössten Herausforderungen, der wir uns im Leben stellen müssen. Laut Yalom kann das Bewusstsein über unsere Sterblichkeit eine zentrale Quelle von Angst sein, die jedoch, wenn wir ihr mit Mut begegnen, zu Wachstum und innerer Freiheit führt.

Die Kraft der Auseinandersetzung

Trotz der Furcht, die die Beschäftigung mit der Sterblichkeit hervorrufen kann, birgt sie das Potenzial für tiefgreifendes persönliches Wachstum und Erfüllung. Indem wir uns der Endlichkeit stellen, öffnen wir uns für neue Perspektiven, die unser Leben bereichern und unser Handeln bewusst gestalten können.

Eine der wertvollsten Lektionen, die wir aus der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit ziehen können, ist die Bedeutung von Beziehungen. Liebe und zwischenmenschliche Verbindungen sind es, die unser Leben tief und reich machen. Doch ebenso wie die Anerkennung unserer Sterblichkeit bedürfen auch Beziehungen der Hingabe und Pflege.

Der Psychoanalytiker Erich Fromm beschreibt in seinem Buch «Die Kunst des Liebens», dass Liebe nicht nur ein Gefühl, sondern eine aktive Entscheidung ist, die bewusste Anstrengung erfordert. Diese Hingabe spiegelt sich in all unseren Bestrebungen wider und fordert bewusste Entscheidungen.

Die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit macht klüger

Die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit kann uns dazu bringen, unser Leben klüger und bewusster zu gestalten. Indem wir die Endlichkeit akzeptieren, gewinnen wir die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, die im Einklang mit unseren Werten und Zielen stehen. Diese Erkenntnis hilft uns, die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu erkennen und unsere Prioritäten neu zu ordnen.

Der Neurologe Viktor Frankl, ein Überlebender des Holocausts, betonte, dass der Sinn des Lebens eine zentrale Rolle für das Überleben und das Glück spielt. Die Erkenntnis unserer Endlichkeit verleiht unserem Leben eine tiefere Bedeutung und ermutigt uns, die Momente, die wir haben, voll auszuschöpfen. Die Frage, die wir uns stellen sollten, lautet: «Was möchte ich in meinem Leben erreichen, bevor es endet?» Diese Frage kann uns helfen, bewusstere Entscheidungen zu treffen und unser Leben so zu gestalten, dass es unseren tiefsten Werten entspricht.

Humor als Werkzeug

In der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit kann Humor ein wertvolles Werkzeug sein, um mit der Schwere der Thematik umzugehen. Humor hilft uns, die Angst vor dem Unbekannten zu mildern und das Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Um die Leichtigkeit zu bewahren, sage ich manchmal, dass der letzte Punkt auf meiner Bucket List ist, eine Packung Maiskörner zu schlucken, damit die Angestellten im Krematorium eine Popcorn-Party feiern können. Solche Gedanken erlauben es uns, die Schwere der Auseinandersetzung auch mit einem Lächeln zu betrachten und die Freude am Leben zu bewahren.

Die Erkenntnis unserer Endlichkeit führt oft zu einem tiefen Bedürfnis, unser Leben sinnvoll zu gestalten und etwas von Wert weiterzugeben. In der Abwesenheit der Angst vor dem Tod eröffnet sich uns die Möglichkeit, selbstlos zu leben und anderen zu dienen. Diese Freiheit ermöglicht es uns, in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu wachsen und gleichzeitig unsere eigene Menschlichkeit zu stärken.

Der Theologe und Philosoph Albert Schweitzer betonte, dass das einzige, was wir von unserem Leben behalten können, das ist, was wir anderen gegeben haben. Diese Gedanken erinnern uns daran, dass wir durch selbstlose Handlungen eine positive Wirkung in der Welt hinterlassen können. Die Freiheit, nicht ständig den Sinn unserer Existenz rechtfertigen zu müssen, erlaubt es uns, unser Leben angstfreier zu gestalten und Liebe weiterzugeben.

Der Weg zum inneren Wachstum

In den schwersten Momenten unseres Lebens finden wir oft den tiefsten Zugang zu uns selbst. Diese Erfahrungen, so schmerzhaft sie auch sein mögen, sind kraftvolle Katalysatoren für inneres Wachstum. Sie stärken unsere Seele und unseren Geist, schärfen unsere Wahrnehmung und Entscheidungsfähigkeit.

Die Psychologie beschreibt diesen Prozess als Posttraumatisches Wachstum, bei dem Menschen nach schweren Erlebnissen positive Veränderungen in ihrem Leben erfahren. Durch die Auseinandersetzung mit den Tiefen unseres Seins entdecken wir nicht nur die negativen, sondern auch die schönen Aspekte des Lebens. Diese Reise der Selbstentdeckung führt zu einer tieferen inneren Ruhe und Erkenntnis, vergleichbar mit einem Tauchgang, bei dem wir sowohl das Schlechte als auch das Schöne entdecken.

Glauben als Quelle der Stärke

Für viele Menschen ist der Glaube an den Gott der Bibel eine unerschöpfliche Quelle der Stärke und des Trostes. Er bietet Halt und Beständigkeit in einer sich ständig verändernden Welt. Die Vorstellung eines unsichtbaren Schöpfers, der uns liebt und immer da ist, kann helfen, Angst und Unsicherheit zu überwinden.

Gott wird oft als eine Quelle des inneren Friedens und der Zuversicht angesehen, die uns hilft, die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Die Beziehung zu Jesus Christus ermöglicht diese Verbindung. Er schenkt uns die Gewissheit, dass wir nicht allein sind und dass unser Leben einen tieferen Sinn hat.

Abschied und Gemeinschaft

Die Endlichkeit des Lebens erinnert uns daran, dass Loslassen und Abschiednehmen natürliche Bestandteile unseres Daseins sind. Der Tod gehört zum Leben dazu, und der Verlust geliebter Menschen berührt uns zutiefst. Die entstandene Lücke bleibt unfüllbar, und wir müssen lernen, damit umzugehen. Oft hört man den Satz: «Wir haben im engsten Familienkreis Abschied genommen», was ein Zeichen für eine Eigenart unserer modernen Gesellschaft ist. Der Trauerprozess ist nicht nur eine individuelle Erfahrung, sondern auch eine gemeinschaftliche. Die Gesellschaft als Ganzes sollte das Recht haben, Abschied zu nehmen. Gemeinschaftliches Trauern gibt uns Kraft und Mut, weiterzuleben. In schwierigen Zeiten spendet sie Hoffnung und fördert das Miteinander.

Weisheit aus der Endlichkeit

Markus Hänni (43) ist Coach und Autor. Er lebt mit seiner Familie in der Stadt Bern.

Die Reflexion über unsere Sterblichkeit kann ein Anstoss für persönliches Wachstum sein. Sie lädt uns ein, regelmässig innezuhalten und zu überlegen, ob wir wirklich das Leben führen, das wir uns wünschen. Im Psalm 90, Vers 12, heisst es: «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.» (LUT) Dieses Bewusstsein kann unsere Entscheidungen im Hier und Jetzt beeinflussen.

Letztendlich ist es die Liebe, die bleibt. Auch wenn das, was wir weitergeben, vielleicht nicht den höchsten Erwartungen entspricht, zeigt es doch unsere Menschlichkeit und unsere Verbundenheit mit anderen. Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens kann uns dazu ermutigen, authentischer zu leben und schenkt uns Hoffnung. Sie lässt uns erkennen, dass trotz Vergänglichkeit die Liebe und die Spuren, die wir hinterlassen, von bleibender Bedeutung sind.

Mehr zu dem Thema können Sie im aktuellen Podcast «endlich leben» von Radio Life Channel hören.

Zum Thema:
Was ist Hoffnung? Der Tod hat nicht das letzte Wort

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Was kommt danach? Die Angst vor dem Tod überwinden

Autor: Markus Hänni
Quelle: Livenet

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