Wie Christen die Transformation überleben können
Ich staune gerade ein wenig, wie nahe sich aktuell konservative Evangelikale mit ihrer Eschatologie des «Alles wird schlechter, bis Jesus wiederkommt und die Welt untergeht» und frustrierte Volkskirchler (und immer mehr Freikirchler!) angesichts des Bedeutungsschwunds ihrer Denomination kommen. Klar – und ich möchte das hier überhaupt nicht klein reden – es schmerzt, zu einer Bewegung zu gehören, die im Rückzug begriffen ist. Das Ansehen schrumpft, die Zahlen auch, die Relevanzvakanz ist bedrückend spürbar und lässt einen nicht gerade jubeln. Und daran hängen ja auch reale Schicksale. Existenzen. Alles nicht wirklich lustig.
Mir geht es nicht darum, diese Not gering zu schätzen und erst recht nicht darum, auf die Volkskirchen herabzublicken! Dasselbe Schicksal wird mit einigen Jahren Verzögerung das Gros der Freikirchen genauso ereilen. Bedeutsamer als die Frage nach dem Überleben von Systemen erscheint mir die Frage nach dem Überleben der einzelnen Christinnen und Christen – denn nur so können sich auch Kirchen erneuern. Als Pastor und traumatherapeutischer Begleiter werfe ich einen Blick auf unsere Situation aus der Traumaperspektive, denn diese kann uns wertvolle Erklärungsansätze bieten. Erst wenn wir unseren status quo barmherzig verstehen lernen, können wir auf neuen Wegen weitergehen.
Zwischen Flucht, Kampf und Erschöpfung
Trauma bildet sich vereinfacht gesagt durch ein hohes Mass von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein. Entweder durch kurze, intensive Impulse ausgelöst (z.B. Unfall, emotionale, körperliche oder sexuelle Gewalt) oder durch einen andauernden, verletzenden Lebenskontext. Hilflosigkeit und Machtlosigkeit resultieren in einem Nicht-flüchten-können (das ist immerhin meine Kirche, mein Glaube, meine Existenz) und Nicht-kämpfen-können (der Feind Säkularisierung, die innerkirchlichen Skandale, das vermeintliche Desinteresse der Menschen scheinen unüberwindbar). Was dann folgt ist zuerst die Starre und dann die Unterwerfung. Kapitulation.
Ich glaube, dass dieser Ablauf deutlich in der aktuellen Situation erkennbar ist: – Da ist zuerst der Versuch, zu flüchten. Manche machen das ganz real – verlassen ihre Berufung bzw. üben sie in anderen Berufsfeldern aus. Andere üben sich im Verdrängen der Situation, reden sich die Lage schön, deuten sie vielleicht sogar als zwangsläufig, notwendig. All das sind Möglichkeiten, sich dem Schmerz des Niedergangs, der mit vielen Ängsten verbunden ist, nicht zu stellen, sondern ihn irgendwie zu kompensieren. Eine wirkliche Flucht ist aber oft nicht möglich, weil Glaube, Existenz, Kirche und Gott eine so enge Symbiose eingegangen sind, dass jede Flucht bedeutete, das ganze System zu kippen. Dann gibt es die Kämpfer. Die anderen sind schuld. Schuldverschiebung zur inneren Entlastung. Schuld sind: die Liberalen. Queeren. Woken. Konservativen. Sturköppe. Die Welt. Der Atheismus. Die Aufklärung. Die Grünen. Das wenige Bibellesen. Die politische Verkündigung. Je absurder und nebulöser die Feindbilder, desto effektiver. Denn dann kommt man nicht in Belegzwang für seine Behauptung, kann sich als Opfer definieren und gleichzeitig gegen etwas kämpfen, was die Illusion von Aktivität vermittelt. Das Problem ist nur, dass Kämpfen gegen etwas auf Dauer lähmt – also auf einem anderen Weg pseudoaktiv doch in eine Starre führt. Schliesslich erfolgt die Erstarrung. Maximal ein «Augen zu und durch» ist möglich. Alle Energie, die vorher für Flucht oder Kampf hätte gebraucht werden sollen, wird ungesund im System abgespeichert. Häufig erfolgt an dieser Stelle der Zusammenbruch. Eine Auszeit und dann vielleicht die Rückkehr ins traumatisierende Umfeld. Schliesslich die Unterwerfung. Irgendwie durchkommen. Minimumverwaltung.
Erstmal tief durchatmen
Frustrierend? Ja. Aber menschlich. Was hilft? Zuerst einmal tief durchatmen. Und dann genau hinschauen. Leider geht in solchen traumatischen Gesamtlagen häufig das klare Denken etwas verloren – was hirnphysiologisch logisch ist. Unser präfrontaler Cortex ist weder beim Flüchten noch beim Kämpfen wirklich notwendig. Umso wichtiger, nun auf ein paar Haltungen zu schauen, die gut tun:
- Raus aus der Starre, rein in die Bewegung.
Wenn sich Türen schliessen, steht man häufig erst einmal auf dem Flur herum, bevor man eine neue Tür findet, die sich öffnet. Unangenehm und eben auch potentiell traumatisierend. Wichtig: Beweglich bleiben. An Türen rütteln, Dinge aus probieren, Niederlagen akzeptieren, neue Türen öffnen. Ja, das mag nach aussen unschlüssig wirken – aber so sind Flurphasen. Für die persönliche seelische Gesundheit ist diese Aktivität dennoch wichtig!
- Bindung zu sicheren Menschen.
Der eine einzige Faktor, der aus traumatisierenden Umgebungen etwas macht, das man durch stehen kann, ist Bindung. Partner, Freunde, Kollegen, Mitstreiter – wir brauchen in dieser Phase mehr denn je sichere Räume, Schutzräume, in denen wir verstanden werden und echt sein dürfen, klagen dürfen, Gefühlen freien Raum lassen dürfen. Das Empfinden des Ausgeliefertseins schwindet in dem Mass, wie man Menschen an seiner Seite weiss, die sicher und verlässlich sind.
- Bindung zu einem sicheren Gott.
Vielleicht noch wichtiger: die persönliche geistliche Beziehung zu Gott. Erleben wir sie als sicher, geborgen, als Fels in der Brandung, dann ist das ein enormer Resilienzfaktor! Es lohnt sich unbedingt, an dieser Stelle zu investieren, wenn das nicht so ist. Ein ganzheitlicher Glaube mit Leib und Seele bei einem sicheren Gott – das ist eine Bank in Krisenzeiten!
- Realitätscheck. In klaren Momenten genau hinschauen.
Geht die Christenheit wirklich vor die Hunde? Nein, weltweit wächst sie – und die Schrumpfung im Westen ist vor allem eine Schrumpfung von Institutionen und von Kulturchristentum. Das mag man bedauern, aber «die Christenheit» schrumpft nicht. Hat der Heilige Geist seine übermüdete Urlaubsvertretung geschickt und nun müssen wir es halt selbst machen? Nein – der Heilige Geist ist immer noch derselbe und er will auch durch uns, durch Kirche und Gemeinde wirken. Ist diese Phase kirchengeschichtlich einmalig? Nein – solche Krisen und Häutungsphasen gab es immer und wird es immer geben und das ist normal und gut so. Was neu ist, ist das hohe Mass an Atheismus oder Agnostizismus oder schlicht Gleichgültigkeit gegenüber dem Spirituellen – deswegen braucht es andere, kreative Antworten.
- Ehrlich werden.
Wir greifen in kritischen Phasen aus psychologisch einsichtigen Gründen gerne auf Bewährtes zurück, um Halt zu bekommen. Sei es als Kirche oder als einzelner Christ, als einzelne Christin. Nur, dass diese alten Reaktionsmuster meist heute nicht mehr unbedingt hilfreich sind. Deswegen gehört alles auf den Prüfstand. Funktionieren unsere Strategien? Unsere Strukturen? Kann manches auch weg? Reden wir nur vom Licht oder praktizieren wir noch die Kunst des Sehens? Hier geht es ans Eingemachte. Haben wir als Einzelne und als Kirche eine geistliche Kraft jenseits des menschlich Machbaren? Und: Wo setzen wir den Fokus, was müssen wir fallen lassen? Hier braucht es ganz fromm gesprochen die Führung des Heiligen Geistes.
- Perspektivwechsel.
Das Problem als Wegweiser zur eigentlichen Frage. Was ist, wenn das Problem eigentlich versucht, die Antwort auf eine wichtige Frage zu geben? Dann sollten wir die Frage kennenlernen und nicht versuchen, um ein Problem zu kreisen! Systeme versuchen immer, sich zu stabilisieren, zu einer Homöostase zu kommen. Die aktuelle Situation (das Problem) könnte also der Versuch sein, eine Unwucht im System auszugleichen. Was ist also die Unwucht? Beispiele könnten (!) sein: Kirche hat falsche Prioritäten gesetzt, hat zu wenig die spirituelle Bedürfnisse von Menschen adressiert, war zu einseitig kopfbezogen etc. Dann ist der Relevanzverlust die logische Antwort darauf und kann uns lehren, einen Schritt zurück zu gehen und es besser zu machen. Betrachten wir also das Problem nicht als «Angreifer», sondern als Wegbegleiter zur Lösung.
- Den Bruch der Normalität als das neue Normal betrachten.
Jesus hat permanent die Normalität der damaligen Gesellschaft durchbrochen und eine neue Botschaft hineingebracht. Er hat gesellschaftliche, politische, religiöse Komfortzonen gesprengt und Freiheit hineingesprochen und gelebt. Freiheit in Abhängigkeit von einem Gott, mit dem man gerne zusammen ist. Semper reformanda. Immer wieder. Unser Halt ist Christus – drumherum findet immer wieder der Zerbruch des Gewohnten statt und das ist der Normalzustand! Heissen wir ihn willkommen!
Herbert Grönemeyer hat eine wunderbare Liedzeile in «Bleibt alles anders» gedichtet: «Stell die Uhr auf Null, wasch den Glauben im Regen. Die Sintflut ist verebbt, die Sünden vergeben.» Fühlt sich das angenehm an? Nicht immer. Aber das ist Freiheit in Christus. Und genau so dürfen wir mutig mit ihm weitergehen. Denn es geht weiter.
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