Warum streiten sich Christen?

Menschen in einem intensiven Gespräch
Es könnte so schön sein, wenn alle Gläubigen einer Meinung wären. «Hauptsache, es ist meine Meinung », ergänzt man dabei schnell in Gedanken, dabei sind Auseinandersetzungen normal – die Frage ist eher, wie man streitet.

«Meinungsverschiedenheiten sind unvermeidlich. Wir alle nehmen die Welt mit unseren eigenen Augen wahr und bilden uns auf Basis unserer Erfahrungen und Perspektiven unsere eigene Meinung.» Das hält der bekannte britische Theologe N. T. Wright fest. In einem Podcast bei Premierchristianity beantwortet er regelmässig theologische und sonstige Fragen. Eine davon war: «Warum streiten sich Christen so oft?»

Wright-Gedanken

Streit beginnt nicht erst bei heftigen Auseinandersetzungen, sondern bereits, wenn wir einander anschauen und meinen: «Da übertreibst du etwas…» oder «Ich denke, du hast unrecht…» Ein weit verbreiteter Ansatz ist es, nun christliche Einheit einzufordern. «Seid gleich gesinnt gegeneinander», heisst es bei Paulus (Römer, Kapitel 12, Vers 16). Wright unterstreicht dagegen: «Es passt zur Zugehörigkeit zum Leib Christi, dass wir von anderen Menschen hören und lernen müssen, die die Dinge aus anderen Blickwinkeln sehen.» Im Neuen Testament ist von vielen Auseinandersetzungen unter Christen die Rede, «über die wir unterschiedlicher Meinung sein können und werden, aber wir müssen lernen, miteinander zu leben… Die Schlüsselfrage ist, wie man zwischen Differenzen, die wichtig sind, und solchen, die nicht wichtig sind, unterscheiden kann.»

Dabei spricht gerade Paulus im Neuen Testament Bereiche an, die von entscheidender Bedeutung fürs Leben als Christen sind. Hier lohnt es sich durchaus, sich mit anderen und ihren Positionen auseinanderzusetzen. Wright beobachtet: «Der Niedergang des Diskurses in der postmodernen Welt ist wirklich besorgniserregend. Viel zu schnell sind Menschen dazu bereit, übereinander zu urteilen, vor allem über ihren Bruder oder ihre Schwester in Christus. Statt reflexartig auf sie zu reagieren und Beziehungen wegen einer Meinungsverschiedenheit zu beenden, wäre es viel besser nachzufragen: ‘Warte mal, ich will sicher sein, dass ich wirklich verstanden habe, was du meinst. Wogegen wehrst du dich?’ Oft werden wir feststellen, dass wir uns, auf einem sehr ähnlichen Weg bewegen, auch wenn wir von unterschiedlichen Blickwinkeln herkommen.» Worum geht es? Um eine die Gemeinschaft zerstörende Meinungsverschiedenheit oder etwas, mit dem wir leben können? (Ehrlicherweise können und sollen wir hier mit viel mehr leben, als wir es gern behaupten.) Der Theologe schliesst seine Gedanken mit dem Appell: «Wir sollten einander nicht verteufeln. Dies ist ein wichtiger Bereich der christlichen Disziplin, den wir lernen müssen.»

Paulus-Tipps

Ein regelmässig zitierter Bibelabschnitt zum Umgang mit unterschiedlichen Meinungen ist Römer, Kapitel 14. Auch N. T. Wright verweist auf ihn. Über Wrights Beitrag hinaus sieht man hier, wie man mit Konflikten umgehen kann, sodass «konservativen Christen (primär Juden) und weltoffeneren Christen (primär Nichtjuden) damit eine friedliche Koexistenz in christlicher Gemeinschaft ermöglicht wird» (John Stott). Paulus zeigt Kernbereiche, in denen eine Übereinstimmung notwendig ist, um Gemeinschaft zu leben: «Denn dazu ist Christus auch gestorben und auferstanden und wieder lebendig geworden, dass er sowohl über Tote als auch über Lebende Herr sei.» (Römer, Kapitel 14, Vers 9.)

Hauptsächlich betrachtet er allerdings die «anderen Fragen». Speise- und sonstige Vorschriften, die damals in den Gemeinden diskutiert wurden, waren zu dieser Zeit übrigens so wenig nebensächlich wie die heutigen Debatten um Homosexualität oder Genderfragen. Sie waren hoch emotional. Was empfiehlt Paulus in diesen Diskussionen?

  • Feiere andere Meinungen
    Der Apostel drückt das so aus: «Nehmt den Schwachen im Glauben an», ohne ihn zu verachten (Vers 1a und 10), denn unterschiedliche Wahrnehmungen sind normal.
     
  • Halte dich mit schnellen Urteilen zurück
    «Ohne über Gewissensfragen zu streiten» (Vers 1b) lassen sich andere Meinungen akzeptieren. Viermal fordert Paulus allein in diesem Abschnitt dazu auf, andere nicht zu verurteilen (Vers 1, 4, 10, 13).
     
  • Werte andere nicht ab
    Ein üblicher Mechanismus ist, sich selbst bei unterschiedlichen Positionen aufzuwerten, indem man das Gegenüber abwertet oder «verachtet» (Vers 3).
     
  • Handle nach deinem Gewissen
    Paulus ermutigt zu einer eigenen Meinung. Es geht ihm nicht darum, mit aller Gewalt gegen die eigene Überzeugung zu handeln, denn «jeder sei seiner Meinung gewiss!» (Vers 5 b)
     
  • Unterstelle anderen gute Absichten
    Oft werden Auseinandersetzungen davon bestimmt, dass man von sich selbst das Beste und gleichzeitig von anderen das Schlechteste erwartet. Bei aller Unterschiedlichkeit erwartet Paulus zunächst einmal eine geistliche, positive Einstellung: «Wer isst, der isst für den Herrn, denn er dankt Gott; und wer nicht isst, der enthält sich der Speise für den Herrn und dankt Gott auch.» (Vers 6)
     
  • Nimm Rücksicht
    Interessanterweise betont Paulus hier gegenseitige Rücksichtnahme (Vers 13) und nicht die Forderung, dass der jeweils andere einem entgegenkommen müsste.
     
  • Arbeite am Frieden
    In vielen Fragen geht es nicht darum, einer Meinung zu sein. Stattdessen sind «Frieden und … gegenseitige Erbauung» das Ziel (Vers 19).
     
  • Handle aus Liebe
    Tatsächlich ist es hilfreich, sich selbst immer wieder nach der eigenen Motivation zu fragen, warum man die Auseinandersetzung sucht. Wenn das Gegenüber leichtfertig betrübt wird, «so wandelst du nicht mehr gemäss der Liebe», erklärt der Apostel (Vers 15).

Streit hat es zu jeder Zeit gegeben – und das wird so bleiben. Auch unter Christen. Gerade deswegen ist es sinnvoll, eine gute Streitkultur zu entwickeln. Und die beginnt damit zu erkennen, dass vieles, was einem selbst extrem wichtig erscheint, in Wirklichkeit nicht so entscheidend ist wie «Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist» (Vers 17). Bei aller sinnvollen Diskussion und Auseinandersetzung ist es elementar, sich nicht in Nebensächlichkeiten zu verzetteln. Bereits kurz nach der Reformation betonte der Theologe Peter Meiderlin den Grundsatz: «In den notwendigen Dingen Einheit, in den nicht notwendigen Freiheit und in allen die Nächstenliebe.»

Zum Thema:
Ehepaar Bigger im Talk: «Wir sind ins andere Extrem gekommen»
(Un)Sinn hitziger Diskussionen: Es ist Zeit, den Glauben zu pflegen
Ein Ja zu Profil und Berufung: «Immer hatte ich die 2 am Rücken»

Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / N. T. Wright / Premierchristianity

Werbung
Livenet Service
Werbung