«Für mich ist jeder Mensch ein VIP»
«Ich möchte keine Suppe, nur den Salat», ertönt es am Mittagstisch. Das Restaurant des christlichen Sozialwerks HOPE an der Stadtturmstrasse ist gut gefüllt. Täglich gibt’s Suppe, Brot und ein Getränk, gratis oder gegen eine Spende, bei Bezahlung ein Viergang-Menü. Wer mithilft, bekommt auch dieses geschenkt. Viele, die von den Angeboten des HOPE profitieren, enga- gieren sich gern hier. Das HOPE wurde für sie zum Daheim, sie fühlen sich wie in einer Familie. Auch deshalb sind die Spaghetti-Treffen am Mittwochabend sehr beliebt.
Dazugehören
Man kennt einander, redet und scherzt, erzählt vom Alltag und geniesst es offensichtlich, nicht allein essen zu müssen. Wer bedrückt ist, findet offene Ohren und Herzen. «Unsere Türen stehen weit offen, alle sind willkommen, für mich ist jeder Mensch ein «VIP», eine sehr wichtige Person», stellt Deborah Schenker klar. Die 45-Jährige hat vor zwei Jahren die Geschäftsleitung übernommen. Sie ist begeistert von ihrem neuen Arbeitsplatz und schätzt es, ihre Werte leben zu können. Die Aufforderung von Jesus, sich der Bedürftigen anzunehmen, ihnen Essen, Kleidung und Zuwendung zu schenken, wird hier ernstgenommen. «Es gibt viele Gründe, in Obdachlosigkeit oder Sucht abzurutschen», weiss Schenker. Zuerst wird jeweils für ein Dach über dem Kopf gesorgt, danach Beratung und Begleitung für den nächsten Schritt angeboten. Auch Menschen mit psychischen Belastungen werden liebevoll willkommen geheissen und respektvoll behandelt.
Kraft schöpfen
Pfarrer Ernst Sieber (†2018) diente als Vorbild für das HOPE. Er liess nicht zu, dass in Zürich Menschen übergangen wurden, die kein Zuhause mehr hatten oder ihrer Suchterkrankung ausgeliefert waren. Vor vierzig Jahren hatten sich unter den Gleisen des Bahnhofs Badens ebenfalls Obdachlose und Suchtkranke Menschen häuslich eingerichtet. Die Gründer von HOPE besuchten sie dort, brachten Essen, Decken und boten Hilfe an. Bis heute kümmern sich Gassenarbeitende um Menschen ohne Obdach und machen sie auf die Angebote des HOPE aufmerksam.
Aufblühen
Zurzeit engagieren sich im HOPE rund 20 Angestellte und 70 Freiwillige. Das Kernteam der Fachleute trifft sich dabei regelmässig zum Gebet. «Der Glaube an Gottes Liebe ist unsere Grundlage, aus der Verbindung zu ihm schöpfen wir Kraft», hält Schenker fest. Es brauche viel Liebe, Weisheit, Flexibilität, Stärke und Geduld, um auf jede Person einzugehen. Für die Mutter zweier erwachsener Kinder gilt: «Jeder Mensch ist eine Schatzkammer mit Gaben und Fähigkeiten, die Gott in ihn hineingelegt hat.» Deborah Schenker freut sich, wenn Menschen aufblühen, neue Hoffnung schöpfen und den nächsten Schritt unter die Füsse nehmen. Spiritualität ist nachweislich eine Ressource, sie wird im Alltag des HOPE gelebt und erlebt, aber niemandem aufgedrängt. «Falls jemand den Wunsch nach einem Gebet äussert, machen wir das gern», erklärt Schenker.
Aus eigener Erfahrung
«Meine Mutter litt an einer Suchterkrankung», erzählt die Älteste von fünf Kindern. Damals übernahm sie Verantwortung und stand ihrer Mutter bei. «Ich erlebte, wie schwierig es ist, mit einer solchen Krankheit umzugehen», hält sie fest. Die Mutter schaffte es schliesslich und fand einen Weg in ein gesundes Leben. «Das macht mir Mut!», sagt die gelernte Medizinische Praxisassistentin. Vor zwanzig Jahren trat sie eine Stelle in einem Altersheim an, leitete am Ende den Bereich Aktivierung – und hätte sich sogar vorstellen können, selbst einmal ein Altersheim zu führen. Schenker bildete sich weiter zur Psychosozialen Begleiterin und beriet Menschen in Krisensituationen in der eigenen Praxis. Diese Erfahrungen kommen ihr, vor allem aber den vom Leben gebeutelten Menschen im HOPE, nun zugute.
Zum HOPE statt ins Altersheim
Das Zepter an Schenker übergeben hat Daniela Fleischmann. 16 Jahre lang sorgte sie dafür, dass Menschen am Rande der Gesellschaft niederschwellig Unterstützung, Essen und wenn nötig ein Bett erhielten. Fleischmann initiierte auch die einzige Notschlafstelle im Kanton. Zusammen mit dem Verein «Notschlafstelle Kanton Aargau» führt das Sozialwerk HOPE das Angebot weiter. Zurzeit macht Deborah Schenker ihren Master in Betriebsführung und Management. «Es bereitet mir Freude, Menschen anzuleiten», erklärt sie. Mit ihrer offenen, herzlichen Art passt sie bestens zur Ausrichtung des HOPE: Menschen begegnen, beraten, beherbergen und begleiten.
Es geht nur gemeinsam
«Wir arbeiten mit zahlreichen Partnern zusammen, nur so können wir unser Angebot aufrechterhalten», erklärt die HOPE- Geschäftsführerin. Grossisten spenden jeweils das nicht verkaufte Fleisch und die Schweizer Tafel liefert weitere Lebensmittel, die in der Restaurantküche verwertet werden. Gibt es Reste, dann stehen sie nach den gemeinsamen Mahlzeiten für Armuts- betroffene zur Abholung bereit. Pandemie, Krieg und Krise führen dazu, dass immer mehr Menschen in Not geraten. HOPE freut sich deshalb über weitere Freiwillige, Finanzen und Partner.
Kreativität leben
Nach dem Mittagessen verwandelt sich das Restaurant in eine Kunstmanufaktur. Da werden Glückwunschkarten oder Gewürzsalz hergestellt, es wird sortiert, verpackt, miteinander gearbeitet. So entsteht eine natürliche Tagesstruktur und alle packen mit an. «Wir sind immer auf der Suche nach Wohnungen und Arbeitsplätzen für unsere Klienten», ergänzt Deborah Schenker. Sie erzählt von Menschen, die mit der Unterstützung von HOPE endlich wieder einen eigenen Wohnungsschlüssel besitzen oder einen Job gefunden haben. «Der erste Gast der Notschlafstelle lebte zeitweise im Wald. Jetzt gehört er zu einer Wohngemeinschaft, arbeitet wieder in seinem erlernten Beruf und hilft als Freiwilliger im HOPE mit.» Solche Geschichten machen die Chefin und das ganze Team glücklich – und sie motivieren, dranzubleiben.