Drei Perspektiven

Der Kreuztod kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden.
Was bedeutet es, wenn Christen sagen: Jesus hat sich am Kreuz als Opfer für uns hingegeben? Was für ein Opfer ist gemeint? Der englische Sprachgebraucht hat einige Worte, die auf Deutsch alle mit «Opfer» übersetzt werden.

Das deutsche Wort «Opfer» ist vielschichtig und kann sehr unterschiedliche Dinge meinen. Auch die vielen Stellen im Neuen Testament, die vom Kreuzestod als Opfer sprechen, betonen ganz verschiedene Aspekte. Alles über einen Kamm zu scheren, würde nicht weiterhelfen. Und es würde den Reichtum der biblischen Aussagen verwischen.

Die englische Sprache hält eine klärende Unterscheidung für uns bereit. Hier gibt es die Begriffe victim, sacrifice und offering. Victim meint jemandem, der wehrlos durch Gewalt geschädigt wird. Sacrifice bezeichnet ein Opfer, das etwas ausdrücken oder bewirken möchte, zum Beispiel Dank, Versöhnung oder Wiedergutmachung. Offering ist eine freiwillige Gabe, ein Geschenk an jemanden. Alle drei Aspekte sind im Kreuzestod von Jesus enthalten.

Victim

Historisch gesehen war Jesus ein Opfer von Gewalt. Er starb nicht auf einem Altar, sondern an einem römischen Hinrichtungsinstrument. Durch falsche Anklagen wurde er an die römische Gerichtsmaschinerie ausgeliefert und so zur Stecke gebracht.

Eine Reihe von Texten im Neuen Testament benennt, dass Jesus der Tötungsabsicht anderer zum «Opfer» fiel und dieser Macht unterlegen war. Im Grunde ist der ganze Handlungsablauf der Passionsberichte in den Evangelien so erzählt. Darüber hinaus begegnet uns diese Perspektive in folgenden Texten: Markus Kapitel 8, Vers 21; Kapitel 12, Verse 7-8; Apostelgeschichte Kapitel 3, Verse 13-15; Kapitel 10, Vers 39; Kapitel 13, Vers 28.

Sacrifice

Lebenshingabe als ein Opfer, das etwas bewirkt und das zugunsten von anderen geschieht – dies ist eine häufige Beschreibung des Todes von Jesus im Neuen Testament. Die Akzente werden dabei durchaus unterschiedlich gesetzt, es gibt keine einheitliche Sacrifice-Vorstellung. Mal steht das alttestamentliche Sühnopfer im Hintergrund, mal das geschlachtete Passalamm, mal der Deckel der Bundeslade als Ort der Sühne, mal das Lösegeld oder die Erledigung eines Schuldbriefes – und oft ist auch nur allgemein davon die Rede, dass Jesus «für uns» hingegeben wurde (ohne nähere Beschreibung).

Die Fülle der Texte, die in diese Gruppe gehören, ist gross: Matthäus Kapitel 26, Vers 28; Markus Kapitel  10, Vers 45; Johannes Kapitel 19, Verse 14.31 (Jesus stirbt zeitgleich mit der Schlachtung der Passalämmer); Römer Kapitel 3, Vers 25; 1. Korinther Kapitel 5, Vers 7; Kapitel 11, Vers 24; 2. Korinther Kapitel 5, Verse 14-15.19.21; Galater Kapitel 1, Vers 4; Kapitel 2, Vers 20; Epheser Kapitel 5, Vers 2.23.25; Kolosser Kapitel 1, Vers 20; Kapitel 2, Vers 14; 1. Thessalonicher Kapitel 5, Vers 19; 1. Timotheus Kapitel 2, Vers 5-6; Titus Kapitel 2, Vers 14; 1. Petrus Kapitel 1, Verse 18-19; Kapitel 2, Vers 24; 1. Johannes Kapitel 1, Vers 7; Kapitel 2, Vers 2; Offenbarung Kapitel 1, Vers 5; hinzu kommen weite Passagen des Hebräerbriefs, der in Jesus gleichzeitig den Hohepriester und das Opfertier sieht.

Offering

Andere Stellen betonen, dass Jesus sich aus freien Stücken hingab. Viele dieser Stellen sagen nicht genauer, worin diese Hingabe bestand. Oft ist nicht allein an den Tod von Jesus gedacht, sondern das ganze Leben zuvor einbezogen: Jesus hat sich an uns verschenkt. Die Aussagen, dass er sich «für uns hingab», können auch dieser Gruppe zugeordnet werden. Folgende Texte sind zu nennen: Matthäus Kapitel 26, Vers 53; Markus Kapitel 14, Vers 36; Johannes Kapitel 10, Verse 17-18; 15,13; 18,8; Galater Kapitel 1, Vers 4; Kapitel 2, Vers 20; Titus Kapitel 2, Vers 14; 1. Thessalonicher Kapitel 5, Vers 19; 1. Timotheus Kapitel 2, Vers 6; 1. Johannes Kapitel 3, Vers 16..

Sehr bemerkenswert ist eine Beobachtung an Jesaja, Kapitel 53 – dem Abschnitt, der eine grosse Bedeutung in der Bibel hat, um das Kreuz zu verstehen. Genauer handelt es sich um die Passage Jesaja kapitel 52, Vers 13– Kapitel 53,Vers 12. Hier finden sich alle drei Aspekte auf engstem Raum:

Den vollen Klang hören

Wie gehen wir damit um, dass die Bibel hier so mehrgleisig oder vielschichtig ist? Ist das eine Unschärfe, sodass gar nicht mehr klar wird, was eigentlich gemeint war?

Ein Zweischritt ist angemessen: Zunächst sollten wir die einzelnen Aussagen gut voneinander unterscheiden und nicht in bestimmte Sätze etwas einblenden, was in anderen Sätzen steht. Wenn die Apostelgeschichte, Paulus oder der 1. Johannesbrief sich offen oder allgemein äussern, müssen wir das nicht zuspitzen, nur weil wir von anderer Stelle eine präzisere Aussage kennen.

Dann aber sollten wir diese einzelnen Stimmen – in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit – wieder zu einem Gesamtklang zusammenfügen. Das wird (um im Bild der Musik zu bleiben) ein sehr reicher Klang mit vielen Nuancen sein. Die Klangfarben verschiedener Instrumente müssen hörbar bleiben, ebenso wie die Unter- und Obertöne, und auch die unterschiedliche Lautstärke, mit der die Töne jeweils vor­getragen werden. Akustikfilter gegenüber einzelnen Tonhöhen würden dem Gesamtklang seine Charakteristik nehmen.

Zum Thema:
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Kreuzweise: Begegnungen mit Jesus und dem Kreuz
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Autor: Ulrich Eggers
Quelle: Magazin Faszination Bibel 02/24, SCM Bundes-Verlag

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