Das Hausmädchen Rhode

Junge Frau sieht aufs Meer hinaus
Ungläubiges Staunen kennen wir alle. Manchmal ist etwas zu schön, um wahr zu sein, und wir können es kaum fassen. Was wäre das Gegenteil von ungläubigem Staunen? Es gibt zwei Varianten: Gläubiges Staunen und ungläubiges Nicht-Staunen...

Beide Varianten kommen im Leben von Rhode vor (Apostelgeschichte, Kapitel 12, Verse 1-17). Rhode ist eine Sklavin oder Dienerin in Jerusalem. Sie hat die Aufgaben eines Hausmädchens. Obwohl sie einer niedrigen sozialen Schicht angehört, ist ihr Leben nicht schlecht. Ihr Name bedeutet «Rose» und ist kein typischer Sklavenname. Für griechische Ohren ist dieser Name sogar «geadelt», weil die Gattin des Sonnengottes Helios so hiess. Rhode lebt und arbeitet in einem grossen Haus, in dem Wohlstand herrschte. Äusserlich erkennbar ist das an einem Torgebäude – so etwas hat nicht jeder. Wie es scheint, lebt Rhode in einem Frauenhaushalt: Das Haus gehört einer Christin namens Maria; von einem Ehemann ist keine Rede. Hier ist eine Hausgemeinde zu Gast, und Rhode nimmt aktiv an den Gottesdiensten teil, ist also integriert und anerkannt. Wie an anderen Orten auch, ist die soziale Rangordnung unter Christen hier nicht der bestimmende Faktor, sondern man begegnet sich auf Augenhöhe. Rhode ist vertraut mit dem Gemeindeleben, hört wie alle anderen den Predigten zu und nimmt an den Gesprächen teil.

Ins Scheinwerferlicht der Bibel tritt Rhode, als die Jerusalemer Christen unter Druck geraten. Die Gemeindeleiter kommen ins Visier von König Herodes. Den Apostel Jakobus lässt er hinrichten, den Apostel Petrus gefangen nehmen. Die anderen Christen können sich noch ungestört versammeln, und das tun sie auch. Als Petrus im Gefängnis sitzt, beten sie miteinander im Haus von Maria. Sie können nicht ahnen, dass Gott schon eingegriffen hat. Während sie noch bis in die Nacht die Hände falten und die Köpfe zusammenstecken, wurde Petrus schon befreit. Er konnte es erst nicht glauben, dass es ein realer Engel war, der ihm die Türen öffnete (ungläubiges Staunen beim Apostel). Doch als er auf der Strasse stand, fiel der Groschen. Sofort suchte er die Hausversammlung auf – zu Recht ging er davon aus, dass man dort zusammensass und betete.

Die Frau, der man nicht glaubt

Kräftiges Klopfen ans grosse Tor – und hier kommt Rhode ins Spiel. Ihre Aufgabe ist es zu öffnen. Geistliche Einkehr entbindet nicht von alltäglicher Pflicht. Sie verlässt also die Beter, geht nach vorn, hört Petrus rufen und erkennt seine Stimme. Sicherer Beweis dafür, dass sie ihn schon vorher gehört haben muss, dass sie also tatsächlich aktives Gemeindemitglied ist. Unser Bild von Rhode rundet sich ab: Sie ist eine Dienerin, die direkten Kontakt zu einem Augenzeugen und Nachfolger des irdischen Jesus hat. Sie ist ganz nah dran.

Ihr ist gleich klar, dass Gott den Apostel befreit hat, und sie ist ausser sich vor Freude. Gläubiges Staunen! Das macht sie allerdings ein bisschen konfus, und so läuft sie begeistert zurück zur Versammlung und vermeldet, was los ist. Während Petrus immer noch draussen klopft.

Die Beterinnen und Beter können ihre Freude jedoch nicht teilen. Obwohl sie mit dem Beten begonnen haben, seit Petrus inhaftiert wurde, ziehen sie nicht in Betracht, dass Gott schon gehandelt hat. Rhode muss verrückt sein, meinen sie. Wir stossen also auf erwartungslose Beter – und ahnen, dass die uns manchmal ähnlicher sind als uns lieb ist.

Die Reaktion von Rhode wirkt wieder ein wenig konfus. Sie hätte zur Tür laufen und Petrus hineinführen können, und die Sache wäre schnell klar. Beweis erbracht. Doch irgendwie kann sie es nicht stehenlassen, dass man sie für übergeschnappt hält. Sie widerspricht und beharrt auf ihrem Bericht. Gut, dann muss es sich eben anders verhalten: Wer da draussen steht und klopft, ist der Engel von Petrus, entsprechend damaligem Glauben, dass jeder Mensch einen persönlichen Engel hat. Das scheint der Gemeinde eher denkbar, als dass es Petrus selbst sei. Ungläubiges Nicht-Staunen also aufseiten der Hausgemeinde.

Bemerkenswert ist, dass Rhode überhaupt die Diskussion mit ihren Mitchristen beginnt und dass die anderen darauf einsteigen. Das ist nur denkbar, wenn sie das Hausmädchen schon vorher als ernsthafte Gesprächspartnerin wahrgenommen haben. Und Rhode kann sich ihren Widerspruch nur trauen, wenn sie sich eben genauso wahrgenommen gefühlt hat: als ernsthafte Gesprächspartnerin. Ein weiteres Indiz dafür, wie man in der Gemeinde über die sozialen Schranken hinweg miteinander umging.

Was Petrus berichtet und wie die Bibel erzählt

Petrus bleibt die ganze Zeit nichts anderes übrig, als weiter zu klopfen. Das fällt zum Glück dann doch auf. Mehrere stürzen nun gleichzeitig zum Tor. «Als sie schliesslich die Tür öffneten und ihn sahen, waren sie ausser sich vor Staunen» (Apostelgeschichte, Kapitel 12, Vers 16). Endlich also gläubiges Staunen! Die Gebetsversammlung verwandelt sich in eine atemlose Hörerschaft, als Petrus erzählt, was ihm alles passiert ist mit dem Gefängnis und den Eisenketten und den schlafenden Soldaten und dem Engel und den Wachposten und dem schweren Gefängnistor und wie er dann auf der Strasse lief, als der Engel verschwand. Rhode steht inmitten der anderen und hört auf die Stimme, die sie schon an der Haustür wiedererkannt hat.

Petrus zieht sich anschliessend eine Weile aus der Öffentlichkeit zurück. Die Jerusalemer Gemeinde scheint nicht weiter durch Verfolgung behelligt zu werden. Rhode taucht wieder ab in das Schweigen der Berichterstattung. Nur ein einziges Mal wurde sie für uns sichtbar. Und der Bericht, den wir in unseren Bibeln haben, ist so wunderbar augenzwinkernd. Man könnte der Gemeinde ein schlechtes Zeugnis ausstellen für ihr erwartungsloses Gebet. Aber davon klingt höchstens zwischen den Zeilen etwas an. Es ist ein feiner wortkarger Humor, der die Erzählung prägt. Wie schön, dass die Bibel auch so sein kann!

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin Faszination Bibel 1/24 vom SCM Bundes-Verlag.

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Autor: Dr. Ulrich Wendel
Quelle: Faszination Bibel / SCM Bundes-Verlag

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