Warum Jesus in Gleichnissen sprach
«Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen», behauptete der Philosoph Ludwig Wittgenstein – was aber nicht dazu führte, dass besonders viele Menschen seinen «Tractatus logico-philosophicus» gelesen oder gar verstanden hätten. Die Steuerfestsetzung durchs Finanzamt oder auch die Gesetzblätter mit neuen rechtlichen Vorschriften haben als Ziel, möglichst eindeutig zu sein – was aber nicht bedeutet, dass deswegen ihre Sprache schön ist oder man sie ohne professionelle Hilfe begreifen kann.
Ganz anders kommuniziert Jesus: Der Handwerker aus Nazareth spricht in einfachen und kraftvollen Bildern. Allerdings sind sie so vielschichtig, dass man immer wieder neue Aspekte daran entdeckt. Seine Gleichnisse haben Geschichte geschrieben und Literaturgeschichte beeinflusst, vor allem aber haben sie Menschen zu allen Zeiten herausgefordert, weil Jesus damit unter anderem auf Fragen reagierte, ohne sie direkt zu beantworten. Berühmt geworden ist zum Beispiel seine Reaktion auf die Frage: «Und wer ist mein Nächster? Da erwiderte Jesus und sprach: Es ging ein Mensch von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter die Räuber…» (Lukas, Kapitel 10, Vers 29-37) – das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.
Gleichnisse verlangsamen
Manches Mal standen Menschen vor Jesus und forderten ihn heraus, sich klar zu positionieren: «Bist du der Christus? Sage es uns!» Meist verweigerte sich Jesus hier einem einfachen Ja oder Nein, sondern entfaltete stattdessen eine Geschichte, ein Gleichnis. Warum? «Wenn ich es euch sagte, so würdet ihr es nicht glauben…», unterstrich er in der obigen Situation – dann gab er es unumwunden zu: «Ihr sagt es, denn ich bin es!» und sofort wurde er verurteilt (siehe Lukas, Kapitel 22, Vers 67-70).
Durch das Verwenden von Gleichnissen erreichte Jesus meist ein Verlangsamen und Vertiefen der Gedanken und stieg damit in ein Gespräch ein. Es ging nicht mehr um eine schnelle Antwort, sondern um ein bewusstes Wahrnehmen der Situation. Oft bezog er auch seine Zuhörer in die Geschichte mit ein, sodass es nicht mehr um eine allgemeine Frage ging, sondern um etwas, das alle betraf. Dieser Ansatz ist zutiefst orientalisch und wird der Komplexität der biblischen Botschaften in besonderer Weise gerecht.
Wer den christlichen Glauben nur nach richtig und falsch einteilt, der erwartet einfache und schnelle Antworten – auf 3x9 lässt sich schwer mit einer Geschichte reagieren, da reicht 27 als Ergebnis. Aber bei Fragen zu Gottes Reich, seiner Entstehung, Ausbreitung und Vollendung passen die Gleichnisse besser, die Jesus erzählt (in Matthäus, Kapitel 13 gleich siebenmal).
Gleichnisse bleiben im Kopf
Wenn Jesus Gleichnisse erzählte, benutzte er dabei immer alltägliche Gegenstände und Situationen, um etwas zu verdeutlichen. Oft hatten diese Geschichten überraschende Wendungen oder paradoxe Erweiterungen, durch die sein Anliegen im Gedächtnis blieb. Als er in Matthäus, Kapitel 19, Vers 24 meinte: «Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt!», konnte er sicher sein, dass sich viele Zuhörer immer wieder ein Kamel vorstellten, dass durch die winzige Öffnung gequetscht wurde, sobald sie eine Nadel in die Hand nahmen.
So bleiben Gleichnisse im Kopf – übrigens unabhängig davon, ob das Gesagte nun streng genommen ein Gleichnis, eine Parabel, eine Beispielerzählung oder etwas ähnliches ist. Selbst die «Einleitung zum NT» von Pokorný und Heckel unterstreicht: «In der gegenwärtigen literarischen Analyse werden solche Unterscheidungen aber für weniger bedeutend gehalten, weil die Übergänge fliessend sind und der Sprachgewinn stets durch eine bildhafte Ausdrucksweise geschieht.»
Gleichnisse polarisieren
Wenn Jesus Gleichnisse erzählte, tat er dies nicht nur, um griffige Illustrationen zu bieten – er verschleierte seine Botschaft auch damit. Nachdem die religiösen Führer der Juden ihn mehrheitlich abgelehnt hatten, redete Jesus verstärkt in Gleichnissen, die er seinen Jüngern erklärte, anderen aber nicht. Er begründete dies mit einem Zitat des Propheten Jesaja: «Mit den Ohren werdet ihr hören und nicht verstehen, und mit den Augen werdet ihr sehen und nicht erkennen!» (Matthäus, Kapitel 13, Vers 14).
Der Grund dafür lag bei Jesaja genauso wie im Neuen Testament darauf, dass viele Menschen nicht auf Gott hören wollten. Ihnen bot Jesus in der Folge weniger von seiner Botschaft an, den anderen mehr. Tatsächlich fokussierte Jesus sich ab der Mitte seines öffentlichen Wirkens stärker auf Einzelne als auf die Masse.
Gleichnisse fordern eine Reaktion
Die Gleichnisse von Jesus sind nie nur Geschichten. Er sagte es nicht immer ausdrücklich, aber immer schwang das mit, womit er das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zusammenfasste: «So geh du hin und handle ebenso!» (Lukas, Kapitel 10, Vers 37) Gleichzeitig unterstreichen seine Bilder und Vergleiche, dass er nicht unbedingt auf die einfachste und durchsichtigste Art kommuniziert, sondern einlädt, sich auf ihn einzulassen. Der US-Pastor Mike Leake vergleicht dies in einem Artikel über Gleichnisse mit einer Ansammlung von Menschen um eine Attraktion.
Offensichtlich interessiert es etliche, was dort geschieht, was aber nicht für jeden sichtbar ist. Erkennbar wird es erst, wenn man sich auf den Weg macht und selbst nachsieht. «Wer Ohren hat zu hören, der höre!», sagte Jesus dazu (Markus, Kapitel 4, Vers 9).
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