Die Flügel des Herzens wieder ausbreiten
«Es gibt Frauen, die sich prostituieren müssen, andere, die sie überwachen, es gibt Freier, Vermieter von Wohnungen, Netzwerke, die Frauen rekrutieren – es gibt hier alles», weiss Peter Widmer. «Viele Frauen, die wir im Millieu in Thailand oder Brasilien antreffen, kennen Zürich», bestätigt Peter Widmer. «Sie haben da schon angeschafft – das weltweite Netz von Menschenhandel macht das möglich», erzählt der ehemalige Pastor. «Das bricht uns das Herz!»
Er und das Team von Heartwings suchen diese Frauen auf, sie begegnen ihnen mit Wertschätzung und bringen ihnen kleine Geschenke. «Wir wollen ein Wegweiser sein, der aufzeigt, dass ein anderes Leben möglich ist.» Dazu helfen sie denen, die das wollen, auszusteigen, vielleicht sogar zurück in ihre Heimat, zu ihren Kindern zu reisen. «Sie sind, ohne es zu wollen, in diesen Schlamassel geraten – keine bezeichnet sich als selbstbestimmte Sexarbeiterin, die das gewählt hat und bis zum Lebensende dabeibleiben will.»
Zuerst Beziehungen aufbauen
Heartwings ist seit über 16 Jahren im Langstrassen-Quartier in Zürich unterwegs, hat unzählige Beziehungen geknüpft. «Es gibt Tausende von Geschichten, die wir da erleben.» Peter nennt ein Beispiel: «Ein Mädchen aus Brasilien wurde mit acht Jahren als Jungfrau an den Meistbietenden verkauft. Es hatte schon vorher Übergriffe erlebt, nun ging das jedes Wochenende so weiter – ihre dysfunktionale Familie war drogen- und alkoholabhängig und nutzte sie als Geldquelle.» Mit elf Jahren machte sie sich selbständig, tat sich mit einem viel älteren Loverboy zusammen, er gehörte zu einer Gang. Mit 16 Jahren hatte sie zwei Kinder von ihm, dann wollte er sie nach Europa bringen. Vorher wurde sie von der Polizei aufgegriffen und in ein Schutzhaus gebracht, das von Heartwings unterstützt wird. Hier wird ihr geholfen, ihr Leben neu zu gestalten.
Drogen gegen den Schmerz
«Es gibt Frauen, die verbringen 20 Jahre an der Langstrasse, wir haben schon 70-Jährige getroffen, die immer noch anschaffen müssen», berichtet Widmer. Viele von ihnen seien süchtig: Sie bräuchten die Drogen nicht für den Flash – sie bräuchten die Substanzen, um ihren Schmerz zu betäuben. «Wer fünf bis zehn Mal pro Nacht missbraucht wird, geht kaputt», erlebt Peter.
Ihr Vertrauen zu gewinnen, brauche Zeit. «Zuerst meinen sie manchmal, ich sei ein Zuhälter – sie müssen mich kennenlernen, damit wir eine Beziehung aufbauen können.» Auf den Geschenken finden sie die Adresse von Heartwings und erfahren, dass dort ein Nagelstudio betrieben wird. «Die Aufpasserinnen lassen sie herkommen, weil sie wissen, dass schöne Nägel wichtig sind.»
Ort der Ruhe
Das Team von Heartwings besucht die Frauen in ihren Etablissements und lädt sie ein, in die Wohnung zu kommen, die der Verein im Quartier gemietet hat. «Hier können sie zur Ruhe kommen, sie werden mit Kaffee und Gebäck bewirtet, können sich die Nägel machen lassen, schöne Kleider aussuchen.» Einige von ihnen treffen mit Sommerschuhen in Zürich ein, kennen aus ihrer Heimat den kalten Winter nicht. Sie bekommen warme Schuhe und erfahren Wertschätzung. «Sie sollen wieder über die Träume nachdenken können, die sie einmal hatten.» Viele Frauen spürten sich nicht mehr, sie seien wie Zombies, immer unter Stress. Auf einer Wandtafel halten einige fest, wonach sie sich sehnen: «Ich möchte einen Mann finden, der mich liebt und meine Würde erkennt.» «Ich möchte ein eigenes Geschäft eröffnen, mein eigener Boss sein.» «Frieden». «Es ist möglich, gegen den Strom zu schwimmen», ist da zu lesen.
Selbst erlebt
«Ich habe eine rechte Baustelle in unsere Ehe mitgebracht, ebenso meine Frau», gesteht Peter. «Sie wurde durch Christen sehr verletzt, wollte vom Glauben nichts mehr wissen.» Doch Jesus bewahrte sie vor dem Suizid, und durch die eigenen Erfahrungen kann das Paar heute stachelige Menschen ertragen. «Sie machen die gleichen Prozesse durch, die wir selbst erlebt haben», wissen Dorothee und Peter. «Ihre abgespaltenen Teile müssen wieder integriert werden, so wie es bei uns war.»
Viele litten durch den Missbrauch unter Angstzuständen und Panikattacken. Eine Frau aus dem Menschenhandel blieb immer auf Abstand mit ihm, weil sie mit Männern Schreckliches erlebt hatte. Nach einer Zeit der Begleitung erkannte sie, dass sie wieder Nähe zulassen konnte. «Eines Tages sagte sie, sie wolle mich ganz fest umarmen, sie spüre sich wieder.» Sie habe wieder Flügel bekommen, wie es das Heartwings-Logo ausdrückt, und bedankte sich beim Team.
Dranbleiben
«Wir versprechen den Frauen nichts, aber wir können uns zusammen auf einen Weg machen», hält Peter fest. «Nicht immer ernten wir Dank dafür.» Aber dass es Frauen gibt, die ihre Traumata überwinden, die einen neuen Job finden, zu ihrer Familie zurückkehren, ermutigt sie, wie Jesus dranzubleiben. «Er hat die Frauen geschützt, er hat ihnen ihre Würde zurückgegeben», hält Peter fest.
Dorothee verarbeitet ihr Erleben durchs Malen. Sie gestaltet Bilder und Karten mit Sujets, die Hoffnung ausdrücken. Peter findet seine Insel, wenn er mit dem StandUp-Paddle unterwegs ist. Sie achten darauf, sich immer wieder von den Eindrücken zu erholen, denen sie ständig ausgesetzt sind.
Die Stimme erheben
Dennoch wollen sie selbst weiterhin eine Stimme sein für die Unterdrückten und fordern auf, sich ihnen anzuschliessen. Es gebe viele Netzwerke, welche aufklären. Peter ist froh, dass Zeitungen vermehrt darüber berichten, dass Schlepperbanden Frauen aus aller Welt in die Schweiz bringen und ihnen Arbeitsbewilligungen verschaffen, damit sie anschaffen können. «Wir hören 100 verschiedene Sprachen bei Betroffenen!», hält er fest. Auch das Thema Loverboys werde immer mehr publik gemacht. «In Schweden erfahren Kinder in der Schule, dass es nicht in Ordnung ist, wenn Männer Frauen gegen Geld für Sex nutzen.» Heartwings erlebe, dass Väter ihre Teenagersöhne in gekauften Sex einzuführen. Doch Peter und Dorothee bleiben dabei: «Change is possible – Veränderung ist möglich.»
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