«Aus dir wird nie etwas!»
Wieder einmal wurde ich aufgrund störenden Verhaltens des Unterrichts verwiesen. Die Worte der Lehrerin hallen in mir nach: «Aus dir wird nie etwas werden!» Beeindruckt haben mich diese Worte damals nicht, war ich doch erst neun Jahre alt und in der vierten Klasse. Im Gedächtnis blieben sie mir dennoch. Ich war ein rebellischer Junge, tat mich mit dem Zuhören und Befolgen von Anweisungen schwer, ärgerte gerne andere Kinder.
Ein prägendes Praktikum
Als in der 9. Klasse das obligatorische 14-tägige Schulpraktikum anstand, entschied ich mich, dies im städtischen Krankenhaus Meerane zu absolvieren. Das Interesse daran, Menschen zu helfen, kam wohl durch meine Mutter, welche ehrenamtlich beim Deutschen Roten Kreuz als Ersthelferin und Sanitäterin tätig war und mich oft zu den Veranstaltungen und Einsätzen mitnahm. Dieses Gefühl, gebraucht zu werden, gefiel mir. Auf der neurochirurgischen Station fühlte ich mich als Teil eines Teams, tat etwas Sinnvolles und wurde für das, was ich tat, wertgeschätzt. Mich beeindruckte vor allem das Auftreten der Ärzte. Ihre Entscheidungsgewalt, ihre Ausstrahlung, ihre Selbstsicherheit und Souveränität. Sie waren es, die allem Anschein nach die wesentlichsten Entscheidungen trafen und hierfür auch die Verantwortung trugen. Das faszinierte mich! Das wollte ich auch. Ich wollte entscheiden, ob ein Patient wieder nach Hause durfte. Ich wollte entscheiden, was zu tun war, damit es ihm wieder besser ging. Das war es. Ich wollte Arzt werden!
Ein mittelmässiger Realschüler
Zunächst war dies jedoch nur ein kurzer Impuls, ein flüchtiger Gedanke. Doch er verschwand nicht, drängte sich mir immer wieder und immer häufiger ins Bewusstsein, sodass ich ernsthaft darüber nachzudenken begann. Ich wog für mich das Für und Wider ab. Auf der Wider-Seite stand die zweifelhafte und scheinbar unüberwindbare Realität. Allen voran meine mittelmässigen schulischen Leistungen auf einer Realschule, weit entfernt von einem Gymnasium und einem Numerus-clausus-Studienplatz in Medizin. Dennoch liess mich der Gedanke daran, Arzt zu werden, nicht mehr los und so entschied ich mich dazu, all meine Gedanken im Gebet vor Gott zu bringen. Während dieses Gebetes merkte ich, wie sich plötzlich ein Gefühl von innerem Frieden in mir ausbreitete und ich ruhiger wurde. Mir kamen auf einmal die Worte aus Sprüche Kapitel 3, Vers 5 in den Sinn: «Vertraue auf den Herrn mit deinem ganzen Herzen und stütze dich nicht auf deinen Verstand!» War das etwa die Antwort, die ich suchte? Forderte Gott mich tatsächlich auf, ihm zu vertrauen?
Ein durchschnittlicher Student
Ich begann, mich auf die Reise zu machen, investierte in meinen Traum und Gott ebnete die Wege, die vor mir lagen, einen nach dem anderen, durchschritt mit mir Höhen und auch so manche Tiefen. Es gab Zeiten, in denen ich an meine Grenzen kam, in denen mich der Mut verliess, die Kraft und die Ausdauer. Zeiten, in denen mich Zweifel packten und ich kurz davor war, aufzugeben und alles hinzuwerfen, doch Gott liess mich nicht im Stich. Dass ich Kinderarzt wurde und darin meine Berufung fand, beruhte auf Gottes Wirken und einer Begebenheit.
Eines Tages, im Rahmen meiner Famulatur auf einer Kinderstation, bemerkte ich in einem verlassenen Zimmer einen kleinen Säugling, welcher in seinem Bettchen lag und ganz verzweifelt weinte. Ich versuchte, ihn zu beruhigen und begann, ihn zu streicheln. Doch es half nichts. Er hörte nicht auf zu weinen. Ich nahm ihn hoch, setzte mich auf einen Stuhl und legte ihn in meinen Arm. Augenblicklich hörte er auf zu weinen, schmiegte sich an mich, schloss seine Augen und schlief friedlich ein. Was dieser Moment in mir auslöste, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Es war ein göttlicher Augenblick. Meine Augen wurden feucht und mir fielen alle Entbehrungen der letzten Jahre ein, all das viele Lernen, all die Zeit, die ich allein in meinem Zimmer verbrachte und lernte, anstatt rauszugehen, zu feiern, Spass zu haben und mich mit Freunden zu treffen. Alles fiel plötzlich von mir ab und ein Gefühl von innerem Frieden und tiefer Erfüllung breitete sich in mir aus. Der Anblick dieses kleinen Wesens entschädigte für alles!
Ein leidenschaftlicher Oberarzt
Seit jenem Augenblick sind 20 Jahre vergangen. Mittlerweile leite ich eine Kinderintensivstation. Die Arbeit dort verlangt mir noch heute viel ab. Es gibt Tage, an denen ich ausgelaugt nach Hause komme und kaum ein offenes Ohr für meine Liebsten habe. Gerade der Spagat zwischen rationalem Handeln ohne jegliche Emotionen auf der einen Seite und dem Wunsch, den Einzelnen zu sehen mit all seinen Ängsten, Wünschen, Sorgen auf der anderen Seite ist manchmal kein leichter. «Wie kannst du das nur aushalten?», «Wie schaffst du es nur, diese Arbeit zu tun und Kinder so zu sehen?»: Das sind Fragen, die ich nicht selten höre. Das alles auszuhalten und dennoch ein offenes Ohr und Auge für diese Kinder und ihre Eltern zu haben, ist manchmal schwer. Dass letztlich nicht ich es bin, der das kann und diese Arbeit tut, sage ich selten, weiss es aber tief in meinem Herzen! Ich bin dankbar für das Privileg, Kindern und deren Familien in der für sie wohl schwersten Zeit beistehen zu dürfen, sie unterstützen zu können und ihnen Mut machen zu dürfen. Vom Krankenhaus in Meerane ist bis auf ein leeres Gebäude nichts mehr geblieben, doch ich darf noch immer meine Berufung, Kinderarzt zu sein, leben – jeden Tag aufs Neue.
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