Der Leichen-Chauffeur Gottes

Valentin Nikonenko mit dem Leichenwagen
Valentin Nikonenko hat schon viele Rollen ausgefüllt – er war Zahnarzt, dann Pastor, dann Missionar. Und nun fährt er im Namen Gottes Leichen durch die Ukraine. Wie kommt das?

Als der Krieg im Frühjahr 2022 ausbrach, floh der 65-Jährige mit seiner Frau nach Deutschland, wo auch seine Kinder leben. Er arbeitete schon seit langem für das Schweizer Hilfswerk HMK (Hilfe für Mensch und Kirche) und koordinierte Hilfsgüterlieferungen und Flüchtlingshilfe in betroffenen Gebieten. Und dennoch überlegte er sich – wo war sein Platz, und wo sollte er helfen?

Letzten Winter kam sein Neffe in der Ukraine als Soldat ums Leben. Da erkannte Valentin, woran es in seinem Heimatland mangelte: an Leichenwagen. Und so kam er auf die Idee, als Chauffeur die Gefallenen zu ihren Familien zurückzubringen. Er legt in einem Monat 25'000 Kilometer zurück und transportiert 130 gefallene Soldaten. Und das sieht er als Auftrag Gottes. Als Valentin im April 2023 wieder einmal im Auftrag der HMK in die Schweiz kam, nutzten wir die Gelegenheit, ihn darüber auszufragen.

Was genau machen Sie?
Ich transportiere fast jeden Tag Leichen, manchmal acht oder zehn auf einmal. Das sind alles gefallene Soldaten der ukrainischen Armee. Ich bringe sie von der Front in Spitäler, wo sie in Kühlräumen aufbewahrt werden. Manchmal sind sie komplett entstellt, oder wir fanden nur einzelne Körperteile. Ihre DNA wird genommen, um herauszufinden, wer die Person ist. Wenn die Identität geklärt werden kann, wird die Leiche an die Familie überführt. Doch das dauert. Es ist Aufgabe der ukrainischen Armee, und die hat nicht die Ressourcen, um das schnell zu machen. Manche Familien warten Monate auf ihre Verstorbenen, bis sie sie begraben können. Viele werden für immer warten.

Wie kamen Sie auf die Idee, selbst einen Leichenwagen zu fahren?
Mein Neffe diente als Soldat und wir bekamen die Nachricht, dass er vermisst wurde. Es tut weh, wenn man nicht weiss, ob ein geliebter Mensch tot ist oder nicht. Ich ging ins Spital, um an mehr Informationen zu kommen. Dort stand ich neben einer Familie, die gerade ihren gefallenen Sohn identifizierte. Sie waren traurig und weinten, aber in dem Moment erkannte ich: Das ist es, was man braucht – Abschied nehmen zu können. Im Spital erfuhr ich, dass der Kühlraum voller Leichen ist. Und jeden Tag kommen neue dazu. Und ich wusste aus eigener Erfahrung, wie furchtbar es ist, wenn man nicht Abschied nehmen kann.

Und wie wurde es dann konkret?
Vor dem Spital traf ich auf einen Mann, der Säcke in ein Auto lud. Ich fragte ihn, was er da machte. Er erklärte mir, dass er ehrenamtlich für einen Verein arbeitet, der die Verstorbenen zu ihren Familien fährt. Täglich fährt er durch die ganze Ukraine, teilweise auch in ganz entlegene Gebiete oder an die Front, um das letzte Abschiednehmen zu ermöglichen. Das hat mich nicht mehr losgelassen und mit der Zeit spürte ich ganz stark den Wunsch in mir: Ich möchte das auch machen.

Valentin mit seiner Frau

Wie hat Ihre Familie auf diese Idee reagiert?
Meine Frau fand das gar nicht gut. Sie sagte mir: «Warum musst ausgerechnet du das machen?» Die Reisen durch die Ukraine sind nicht ungefährlich. Es kann immer etwas passieren – ein Unfall, ein Angriff, eine Bombe. Wir lebten zu dem Zeitpunkt in Deutschland. Ich fragte bei der HMK Schweiz an, ob sie mich dabei finanziell unterstützen würden. Meine Frau hoffte, dass es nicht klappen würde, aber die HMK war sofort dabei. Und dann akzeptierte meine Frau meinen Wunsch. Nun bin ich schon seit zwei Monaten wieder in der Ukraine, und auch sie wird bald aus Deutschland zurückkommen. Sie möchte bei mir sein. «Wenn es das ist, was Gott von uns möchte, dann tue ich das», sagt sie mir. Unsere Familie und Freunde stehen voll hinter unserer Entscheidung.

Was ist Ihre Motivation?
Einerseits helfe ich gerne Menschen. Andererseits ist es mein Glaube, der mich motiviert. Mich hat das Gleichnis vom guten Samariter neu berührt: Ein Mann, der zur richtigen Stelle am richtigen Ort ist, um zu helfen, und der nicht wie die anderen einfach weitergeht. Viele Ukrainer sagen mir: «Das ist doch Aufgabe der Regierung, die Verstorbenen zurückzubringen! Die sollen das einfach besser hinkriegen.» Diese Mentalität nervt mich mittlerweile. Ich will ein aktiver Mensch sein, der sich um Witwen und Waisen kümmert, so wie Gott es auch tut. Jedes Mal, wenn ich einen Verstorbenen zurück zu seiner Familie bringe, erfüllt mich das mit Freude. Ich erspare ihnen dadurch wochenlange Sorge und Unfrieden.

Was sind schwierige Momente bei den Fahrten?
Wenn ich mit den Emotionen der Familie konfrontiert werde. Der Verein alles so organisiert, dass ich selbst möglichst nicht traumatisiert werde: Die Leichen werden eingepackt, ich sehe sie persönlich nicht. Spitalmitarbeiter hieven sie ins Auto. Und wenn ich die Toten in ihrer Heimat abliefere, ist die Familie meist nicht anwesend. Auf dem Land stehen die Menschen am Strassenrand und knien nieder, wenn ich vorbeifahre – als Zeichen ihres Dankes für die gefallenen Soldaten in meinem Auto. Aber ich sollte möglichst wenig Kontakt mit den betroffenen Familien haben, um mich zu schützen. Ich bin wie ein unsichtbarer Geist im Hintergrund.

Eines Tages hatte ich gerade eine Leiche abgegeben, als eine Frau auf mich zugestürmt kam. «Wo ist sein Kreuz?», schrie sie. Sie hatte ihren Mann gesehen, aber eine goldene Halskette mit Kreuz, die ihm sehr wichtig gewesen war, trug er nicht mehr. «Wo ist sie, wo ist sie?», rief sie total panisch. All ihre Trauer und ihr Schock quollen in diesem Moment aus ihr heraus. Ich konnte ja auch nichts an der Situation ändern. Aber ich bin froh, dass ich solche Momente nicht jeden Tag erlebe. All diese Soldaten, die sterben, sind schliesslich nicht friedlich eingeschlafen nach einem langen und erfüllten Leben. Sie wurden plötzlich aus dem Leben gerissen – von einem Krieg. Es ist furchtbar.

Wo erleben Sie Gott?
Ich erlebe seine Gegenwart ständig. Der Verein, bei dem ich mitmache, hat nichts mit Religion am Hut. Meine Kollegen können es kaum fassen, dass ich als alter Pastor mit ihnen solche Fahrten mache. Ich bin für sie zu einem Vorbild geworden. Wir sind oft zu zweit unterwegs – einer meiner Beifahrer benutzt viele Schimpfwörter. Während einer Fahrt übernachteten wir bei Freunden von mir, die ich aus der Kirche kenne. Auf dem Heimweg schimpfte er fast gar nicht mehr, denn er hatte gemerkt, dass man auch anders reden kann.

Ich erlebe auch viel Bewahrung von Gott. Wir haben neun Fahrzeuge und fahren täglich durch die ganze Ukraine – bis jetzt ist noch nie etwas passiert, kein Unfall, kein Angriff! Ich bete bewusst für alle Familien, zu denen ich die Toten bringe. Vor kurzem wollte ich den Pass eines gefallenen Soldaten in eine Tüte stecken, und dabei fiel ein Foto heraus. Es zeigte einen kleinen Buben mit seinem Papa. Ich bete für diesen Buben und alle anderen Angehörigen, dass Gott sie tröstet.

Nehmen wir einmal an, Sie lebten in Russland. Auch dort werden tote Soldaten an ihre Familien zurückgeschickt. Würden Sie sich als Ukrainer auch dort als Chauffeur engagieren?
Ja, das würde ich. Erstens bin ich Arzt und habe den Hippokratischen Eid geschworen. Ich helfe jedem Menschen, egal wem. Und gleichzeitig bin ich Christ. Mein Glaube ist die Basis, auf der ich solche Entscheidungen treffe. Und mein Glaube sagt mir, dass ich jedem helfen soll – egal, was ich politisch denke oder welche Emotionen ich empfinde.

Zur Webseite:
Hilfe für Mensch und Kirche (HMK)

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Autor: Mirjam Grün
Quelle: HMK

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