«Die Freude bei den Begegnungen ist etwas Schönes»

Leah Weigand
Leah Weigand hat mit einem Text über den Pflegenotstand in Deutschland einen viralen Hit gelandet. Im Interview mit PRO spricht sie über Hintergründe, die Corona-Pandemie und Gebet mit Patienten.

Mit dem Text «Ungepflegt» über den Pflegenotstand haben Sie einen Volltreffer gelandet. Mehr als 400'000 Aufrufe auf YouTube, mehr als drei Millionen auf Facebook, Sie waren sogar in der Talkshow «3 nach9», um über das Thema zu sprechen. Haben Sie mit diesem Erfolg gerechnet?
Leah Weigand: Nein, überhaupt nicht. Das Video wurde im April vorigen Jahres aufgenommen und im Dezember erst veröffentlicht. Deshalb hatte ich es gar nicht mehr so in Erinnerung, dass das Video existiert. Ich war ganz überrascht, wie viele Menschen das Video dann geteilt und kommentiert haben. Das war überwältigend.

Wie waren die Reaktionen denn genau?
Überwiegend positiv. Die meisten Reaktionen kamen von Pflegekräften, die sich darin wiedergefunden haben. Sie sagten: «Du formulierst das, was wir alle fühlen.» Das ist für mich das Schönste, was man als schreibende Person hören kann, dass man anderen Leuten mit seinen Texten eine Stimme gibt und das ausdrückt, was sie fühlen. Die Menschen haben sich auch gefreut, dass das Thema in die Öffentlichkeit kommt. Einige haben mich ermutigt, politisch Stellung zu beziehen.

Was hat Sie zu dem Text motiviert?
Ich habe den ursprünglichen Text gegen Ende meiner Ausbildung geschrieben. Der war inhaltlich etwas anders und hatte viel mehr Insider-Inhalte aus dem Krankenhaus drin. Ich hatte den Text eigentlich für meine Mit-Azubis geschrieben. Ich wollte die Zeit und die Erfahrungen, die wir gemacht haben, kompakt zusammenfassen und habe den Text dann später umgeschrieben, sodass er auch für Aussenstehende verständlich ist. Und dann ist das Thema so gross geworden.

Sie haben eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin gemacht. Was hat Sie dazu angetrieben?
Für mich war schon immer klar, dass ich in diese Richtung gehen will. Das Krankenhaus war für mich immer schon ein vertrauter Ort. Meine Mama ist Krankenschwester, mein Papa Lehrer für Pflegeberufe. Ich hatte schon Praktika im Krankenhaus gemacht. Das war für mich ein Ort, wo ich sein will.

Was hat Sie motiviert, trotz des Pflegenotstandes und der erschwerten Arbeitsbedingungen weiterzumachen?
Es ist einfach ein schöner Beruf. Er steht im Moment sehr im Schatten der Bedingungen. Das ist so schade. Für mich ist es der schönste Beruf, den es geben kann. Er ist abwechslungsreich, man hat schöne zwischenmenschliche Begegnungen, man lernt so viel über das Menschsein, weil man vielen unterschiedlichen Menschen begegnet: arm, reich, alle Bildungsschichten sind vertreten. Das finde ich so bereichernd. Wenn ich abends nach Hause ging, war ich zwar körperlich komplett erschöpft, aber innerlich total erfüllt. Man wusste, warum man den Tag gemeistert hat. Das hat mich durchhalten lassen.

An welche besonders schönen Erlebnisse erinnern Sie sich?
Es gibt ganz viele. Wenn man Menschen über Wochen auf der Station liegen, lernt man sich kennen und sie freuen sich, wenn man morgens ins Zimmer kommt: «Ach, Sie sind ja wieder da.» Oder: «Meine Lieblingsschwester ist da.» Diese Freude bei den Begegnungen ist etwas Schönes. Und natürlich, wenn Menschen krank kommen und etwas gesünder nach Hause gehen.

Wie haben Sie die Corona-Pandemie als Krankenschwester erlebt?
Das war nicht cool. Eines der schmerzhaftesten Dinge war für mich, die Einsamkeit der Patienten mitzuerleben. Sie durften zeitweise ja nicht oder nur sehr eingeschränkt besucht werden. Das hat mir das Herz zerrissen. Ich war auf einer Palliativstation, wo die Menschen ja wirklich auf dem Weg zum Sterben sind. Aber sie waren allein und hatten so viel Redebedarf. Ich wusste gar nicht, in welches Zimmer ich zuerst gehen sollte. Wir konnten als Pflegende den Redebedarf der Patienten gar nicht abdecken.

Wie sind Sie mit Situationen umgegangen, in denen Sie den Patienten gern mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätten, aber keine Zeit dafür da war?
Das macht mich unzufrieden, weil ich meinen Beruf nicht so ausüben kann, wie ich ihn gelernt habe und ihn gerne ausüben würde. Man wird dauerhaft seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Ich versuche, das auch den Patienten deutlich zu machen und ihnen zu sagen, dass ich mir gerne mehr Zeit nehmen würde, es aber nicht geht. Aber das macht die Situation ja trotzdem nicht besser.

Der Arzt Dietrich Grönemeyer hat in der Talkshow «3 nach 9» gesagt, es werden immer nur die Ärzte in der Öffentlichkeit gesehen, nicht aber die Pflegekräfte, die viel näher am Patienten sind. Wie kann in der Gesellschaft mehr Bewusstsein und Wertschätzung für die Arbeit der Pflege geschaffen werden?
Zum einen muss etwas im System daran geändert werden, wie im Moment Pflege geschieht. Derzeit steht alles unter ärztlicher Anordnung. Das vermittelt natürlich das Bild als Hilfskraft der Ärzte. Pflege ist aber eine eigene Profession und genauso wichtig wie der Beruf des Arztes. Pflegekräfte sind in einigen Bereichen viel besser ausgebildet als Ärzte in diesen Bereichen. Man sollte der Pflege deshalb viel mehr Autonomie und Selbständigkeit geben. Bessere Bezahlung ist auch wichtig. Berufe, die besser bezahlt werden, haben auch in der Gesellschaft ein höheres Ansehen und werden dann lieber gewählt.

Grönemeyer sagte: Ärzte und Krankenschwestern sind eigentlich ein Team. Wie haben Sie die Zusammenarbeit erlebt?
Wenn es gut läuft, sind sie das. Davon profitiert dann auch der Patient. Auf vielen Stationen sind sie leider kein Team, sondern arbeiten manchmal sogar gegeneinander, weil sie verfeindet sind. Das finde ich höchst albern und kindisch. Am Ende leiden die Patienten darunter.

Hat Ihr Glaube eine Rolle bei Ihrer Arbeit gespielt? Sind Sie an manche Dinge anders rangegangen als andere?
Ich erinnere mich an zwei, drei Situationen, in denen ich mal mit Patienten gebetet habe. Das war sehr besonders. Manchmal waren es Patienten, die von sich aus über ihren Glauben gesprochen haben. Dann sind wir ins Gespräch gekommen und daraus ist es entstanden, dass wir zusammen gebetet haben. Eine Patientin war nervlich mal sehr am Ende, sie durfte wegen der Corona-Massnahmen nicht besucht werden, sie war einsam. Da habe ich gefragt, ob ich für sie beten darf.

Der Glaube hat mir auch im Umgang mit schwierigen Situationen geholfen. Mein Glaube gibt mir Kraft und manchmal auch einen Blick für die Menschen, gute Gedanken, das Richtige im richtigen Moment zu sagen.

Wie prägt der Glaube Ihr Leben?
Er ist eine Kraftquelle im Trubel des Alltags. Besonders in letzter Zeit habe ich den Frieden kennengelernt, der im Glauben liegt. Gerade angesichts des Unfriedens, der überall herrscht. Mein Glaube verändert mich auch. Er schärft meinen Blick für Menschen und Situationen. Er schenkt mir Liebe in Situationen, wo ich denke, ich kann keine Liebe mehr haben. Der Glaube ist mir auch ein Schatz angesichts der Sinnfragen in meinem Leben. Ich muss nicht mehr so viel darüber grübeln, warum ich auf dieser Welt bin oder was passiert, wenn ich tot bin. Gerade im Krankenhaus wird man mit den Grenzsituationen des Lebens dauernd konfrontiert. Die Menschen gehen mit dem Sterben so unterschiedlich um. Manche sind sehr friedvoll, andere haben Angst, weil sie nicht wissen, was passiert.

Spielt Ihr Glaube bei Ihren Poetry-Slam-Texten eine Rolle?
Er kommt nicht in jedem Text vor und auch nicht immer ganz prominent. Ich schreibe keine Predigten und verkündige Jesus auch nicht direkt in meinen Texten. Es ist oft subtiler. Man kann viel über seinen Glauben und Jesus sprechen, ohne die Standardworte zu benutzen. Es kommt viel vor, aber beim ersten Hören nimmt man das vielleicht nicht immer wahr.

Können Sie Beispiele nennen?
Ich habe zum Beispiel einen Text über Licht geschrieben. Ich sage kein einziges Mal «Gott» oder «Jesus». Aber es geht darum, dass Glaube ein Licht in meinem Leben ist und dass ich dadurch Licht im Leben anderer Menschen sein kann. Ich spreche gerne in Bildern und Metaphern.

Sie studieren jetzt Medizin. Warum möchten Sie Ärztin werden?
Mir ist wichtig, dass das kein Aufstieg ist, sondern ein Berufswechsel. Mich interessiert das medizinische Wissen, wie man therapiert. Es ist keine Entscheidung gegen die Pflege, sondern für die Medizin.

Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin

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Autor: Swanhild Brenneke
Quelle: PRO Medienmagazin

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