«Wir wollen unsere christliche Überzeugung in der Politik leben»
Gleich zu Anfang spricht der Moderator seine beiden Gäste auf das aktuelle Erdbeben in der Türkei an. Andrea Geissbühler verweist dabei auf die Hilfswerke und Einsatzformationen der Schweiz, die sofort helfen, ohne dass zuvor politische Entscheidungen gefällt werden müssen. «Wir sind da gut aufgestellt und können gerade auch in der kalten Jahreszeit gut helfen.» Eric Nussbaumer ist in Europa gut vernetzt. Es handle sich in der Türkei und Syrien um eine Naturkatastrophe, wo man sich fragen müsse, ob man gut genug helfen könne. Möglich sei das ohnehin nur, wenn auch andere Staaten helfen. «Sind wir solidarisch, helfen wir genug?», sind für ihn wieder wichtige Fragen.
Die Schweiz und Europa
Hier knüpft Moderator Wüthrich an und stellt die Frage nach dem Verhältnis der Schweiz zu Europa, aktuell auch zur Türkei. Europa habe einen grossen Prozess der Integration bewältigt, so Nussbaumer, insbesondere die Osterweiterung. Das habe den Menschen viel gebracht und wäre auch für die Türkei wichtig. Man dürfe den Prozess der Annäherung zu diesem Land nicht stoppen, denn es stehe viel auf dem Spiel bezüglich Sicherheit und Wohlstand. Wie schnell sich Europa aber als Integrationsprojekt ausdehnen solle, sei schwer einzuschätzen.
Anders sieht Andrea Geissbühler die europäische Integration der Schweiz: «Wir stehen in Europa mittendrin.» Aber jeder Vertrag sei eine Bindung, die den eigenen Handlungsspielraum einschränke. Bei jedem Vertrag sei gut zu übererlegen, ob er beiden Seiten nütze. Oft sei die Schweiz «zu schnell eingeknickt» und habe bei Verträgen nachgegeben. Ihr Motto lautet daher: Ja zum Miteinander, aber nicht zu jedem Preis.
Allein oder gemeinsam?
Dass eine vertragliche Bindung per se eine Einschränkung bedeute, hält Nussbaumer dagegen für falsch. Gemeinsam miteinander etwas voranzubringen, sei keine Einschränkung. «Sonst hätte ich nie geheiratet.» Ähnlich ist es für ihn im internationalen Kontext. Denn die Herausforderungen seien für die Schweiz im Alleingang zu gross. Die Zusammenarbeit in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ist für ihn eine Erfolgsgeschichte, was gerade auch die aktuelle Reaktion Europas auf den Krieg in der Ukraine zeige.
Geissbühler hält dagegen, dass die grossen Konstrukte in Europa immer irgendwann wieder zusammengebrochen seien. Im Kleinen könne man viel besser auf die Bedürfnisse der Einzelnen eingehen. Die vielen europäischen Ländern – Geberländer und Nehmerländer, ganz unterschiedliche Kulturen – «in eins hineinzubringen, ist unmöglich». Dass in einer Katastrophe alle helfen, sei wichtig und nicht nur dann möglich, wenn alles nur in einen Topf geworfen werde. Der Föderalismus habe die Schweiz gestärkt.
«Gerade das Miteinander von armen und reichen Kantonen und verschiedenen Kulturen hat die Schweiz stark gemacht», kontert Nussbaumer. Grosse imperialistische Mächte seien zwar zerbrochen, aber damit könne das europäische Projekt nicht verglichen werden. «Unsere Geschichte ist das Vorbild für die europäische Zusammenarbeit!», betont der SP-Politiker.
«Christliche Positionen» zum Asylwesen
«Man kann auch mit einer persönlichen biblischen Verankerung zu sehr unterschiedlichen Standpunkten in der Politik kommen», bilanziert Flo Wüthrich. Er entfacht sodann mit dem Stichwort Asylpolitik, mit der sich die SVP jüngst neu positioniert hat, eine neue Debatte zwischen seinen Gästen. Geissbühler unterstützt die Forderung der SVP, armutsbetroffene Menschen viel stärker vor Ort zu unterstützen, statt sie in die Schweiz hineinzulassen. Zudem müssten die Grenzen Europas besser geschützt werden. Es seien ja gerade die Schwächsten, die es nie bis in die Schweiz schafften. Vor vor allem junge Männer, denen man hier nicht optimal helfen könne. Viel wirksamer könne die Schweiz den Menschen direkt in den Herkunftsländern helfen.
Eric Nussbaumer fürchtet sich nicht vor den zahlreichen Asylgesuchen. Die Menschen hätten dazu das Recht, und längst nicht alle Gesuche würden auch bewilligt. Die Menschen seien auf der Flucht, wegen Kriegen oder schlechten Lebensbedingungen. «Wenn sie zu uns kommen, sind wir verpflichtet, rechtsstaatlich zu handeln.» Er schätzt es, dass wir ein korrektes, rechtsstaatliches Asylwesen haben, das den Menschen eine Antwort auf ihr Gesuch gibt. Seiner Meinung nach ist es ein Trugschluss zu denken, das Problem könne mit verstärkter Hilfe in den Herkunftsländern gelöst werden, wie es schon andere Länder erfolglos versucht hätten. «Wir ziehen niemanden zu uns, aber wenn sie kommen, verdienen sie ein gerechtes Verfahren.»
Der Fokus im Jahr 2023
«Welches sind für Sie die wichtigen Themen dieses Jahres, für das Sie sich engagieren werden?», will Florian Wüthrich von den Gästen wissen. Für Geissbühler ist es nach wie vor der Asylbereich, der die knappen Räume und Ressourcen unseres Landes strapaziere. Hier müssten Lösungen gefunden werden, da sonst längerfristig auch die Sozialwerke überfordert seien. Noch sei die Schweiz finanziell in der Lage, Menschen in den Herkunftsländern bessere Lebensperspektiven zu verschaffen.
Für Nussbaumer will einerseits auf die Energiefrage mit ihrem Bezug zum Klimawandel, Stichwort Bewahrung der Schöpfung, fokussieren. «Wir haben in den letzten Jahren hier zu wenig gemacht; denn die Bewohnbarkeit unseres Planeten steht zur Diskussion!» Zum andern geht es ihm um die Zusammenarbeit mit Europa. Angesichts der geopolitischen Verschiebungen müsse die Schweiz ein gute Basis im Verhältnis zu Europa finden. «Seit Jahren basteln wir hier herum und finden nie eine richtige Antwort», so die Kritik des Europapolitikers und aktuellen Nationalrats-Vizepräsidenten Nussbaumer.
Konsens in Lebensrechtsfragen?
Gibt es einen Konsens in den Lebensrechtsfragen zwischen den beiden christlich basierten Nationalratsmitgliedern? Aus ihrer persönlichen Erfahrung, auch mit behinderten Kindern, kämpft Andrea Geissbühler gegen die Unterscheidung von lebenswertem und lebensunwertem Leben und den «Egoismus» im Umgang mit dem Lebensrecht. «Wer entscheidet, ob ein Leben lebenswert ist?», sei die Frage, die gestellt werden müsse. Die Gesellschaft sei zu stark darauf fokussiert, dass es funktioniert. Für sie ist jedes Leben lebenswert und schützenswert. Das Leben müsse von Anfang bis zum Ende geschützt werden, auch wenn es nicht als lebenswert angesehen werde. «Denn jeder Mensch ist wertvoll.»
Sie unterstützt daher die beiden Volksinitiativen zum Schwangerschaftsabbruch, obwohl sie nichts grundsätzlich Neues bringen würden. Es sei aber wichtig, dass es wenigstens eine Nacht des Überdenkens erfordere, bis eine ungewollt Schwangere eine Abtreibungspille erhalte. 18 europäische Länder kennen laut Geissbühler bereits eine ähnliche und oft längere Bedenkzeit vor dem Entscheid zur Abtreibung. Die andere Initiative will erreichen, dass Abtreibungen nur noch erlaubt werden, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, sobald das Kind nach der Geburt lebensfähig wäre.
Das soziale Umfeld und gelingendes Leben
Gelingendes Leben ist ein Herzensanliegen von Nussbaumer, und er findet die geltende Regelung mit der Fristenregelung von zwölf Wochen gut. Er wünscht sich, dass alle Menschen ein so gutes Beziehungsnetz haben, dass die Fragen, die sich bei einer unerwünschten Schwangerschaft stellen, gut geregelt werden können. Er befürwortet zwar die Forderung nach einer besseren Beratung, findet es aber nicht sinnvoll, diese in die Verfassung zu schreiben. «Wir müssen das gelingende Leben auf allen Ebenen thematisieren», so der SP-Politiker. Er findet es zum Beispiel widersprüchlich, den Schwangerschaftsabbruch zu erschweren, aber alleinstehenden Müttern die nötige Hilfe, zum Beispiel finanziell tragbare Betreuungsangebote, zu verweigern. «Für mich muss der ganze Spannungsbogen stimmen.»
Parlamentarische Gruppe «Christ und Politik»
Zum Schluss fragt Wüthrich nach dem Einfluss der Parlamentarischen Gruppe «Christ und Politik» auf das persönliche politische Engagement. Die Gruppe veranstalte einen grösseren Anlass pro Jahr, entfaltet aber daneben – im Unterschied zu andern Parlamentarischen Arbeitsgruppen – wenig Aktivität, wie Nussbaumer betont. «Wir wollen unsere christliche Überzeugung in der Politik praktisch leben.
Andrea Geissbühler schätzt es, dass es diese Gruppe gibt in einer Zeit, wo die christlichen Werte immer mehr an Gewicht verlieren. Und dass es Menschen in der Politik gibt, die zu ihrem Glauben stehen, auch wenn sie dann als erzkonservativ oder fundamentalistisch abqualifiziert werden. «Es bedrückt mich, dass man es nicht mehr wagt, zu den christlichen Werten zu stehen», so die SVP-Politikerin. «Die Gruppe macht über die Parteigrenzen hinweg deutlich, dass es noch Menschen in der Politik gibt, die zu diesen Werten stehen.»
Sehen Sie sich hier den kompletten Livenet-Talk mit den beiden Nationalräten an: