Damit unser Glaube wieder blüht
Ich bin als Kind der DDR aufgewachsen. Meine Eltern waren als gläubige Christen – nicht staatstreu. Wer Christ war in der DDR, wusste, was diese Entscheidung kostete. Wer sich gegen den sozialistischen Staat entschied, erlebte Nachteile, die eine ganze Lebensbiographie veränderten.
Meine Schwiegermutter hatte sich mit 13 Jahren auf einer «Rüstzeit» zu Jesus bekehrt anhand von Matthäus 7,14: der schmale und der breite Weg. Da ihr Ziel die Ewigkeit war, wählte sie den schmalen Weg und nahm die Einschränkungen in Kauf.
Daraufhin bezeugte sie, dass sie kein Jungpionier mehr sein möchte. Sie begann kritisch zu denken und ihr fiel die Ähnlichkeit zwischen den Pioniergesetzen und den Zehn Geboten auf: (sinngemäss) nicht lügen, nicht stehlen; allerdings auch das erste Gebot, sich dem Sozialismus zu verpflichten, mit allem, was ich bin und habe. In ihrem Zeugnis stand: «Ihr gesellschaftliches Verhalten entspricht nicht der Norm.» Sie wurde vor ein Gremium geladen, bestehend aus 4–5 Erwachsenen im Direktorat, um zu erklären, warum sie nicht zur FDJ geht und statt Jugendweihe die Konfirmation wählte.
Glaube im Sozialismus, der was kostet
Von solchen Geschichten bin ich geprägt worden. Dieses Lebensgefühl lässt sich nicht vererben, denn es beruht auf Lebenserfahrungen, die ja jeder für sich selbst machen muss. Aber es erklärt einen der Hauptunterschiede zu Christen in Westdeutschland, die den Sozialismus nicht am eigenen Leib erlebt haben. Christen im Osten waren nie angepasst. Die Überschneidung von Staat und Kirche war sehr gering, dafür waren sich Volks-Kultur und Kirche näher. Heute, so scheint es mir, ist es anders herum.
Trotz 40 Jahren DDR und einer rasanten Veränderung seit der Wende haben Glaube und Gemeinden in vielen Milieus recht gut überwintert. Mehr aber auch nicht. Von einer Missionierung oder Durchdringung unserer Gesellschaft sind wir noch weit weg, obwohl wir auf einem grossen Schatz hocken: dem geistlichen Erbe von Luther, Zinzendorf, Bach und Lehmann.
Die Wende als Aderlass
Warum sieht man aber in der Fläche keine grossen geistlichen Aufbrüche und blühende Gemeinden? Um diese Frage zu verstehen, müssen wir ein Phänomen der Nachwendezeit betrachten: Viele Christen, vor allem aus der Mittelschicht, gebildete Menschen und Gewinner der Wendezeit, sind in die alten westlichen Bundesländer umgezogen. Gelockt von guten Jobs haben sie sich dort in Gemeinden integriert und vielleicht auch zu deren Aufleben und Erhalt beigetragen. In die andere Richtung war die Entwicklung nicht so stark. Nach der Wende in den Osten zu gehen, erforderte einen gewissen Abenteuergeist.
Das Phänomen des Wegzugs lässt sich heute nicht nur im Osten beobachten, sondern auch in anderen Bundesländern oder auch im ländlichen Raum. Wo gut gebildete junge Menschen gehen, fehlt die Zukunftsaussicht, fehlen potenzielle Leiter. Wenn es dann der gestaltenden Generation schwerfällt, eigene Antworten zu finden, wird sie schnell traditionell.
Gute Traditionen helfen gegen Gemeindeschwund
Auf der anderen Seite könnten gute Traditionen uns sehr weiterhelfen. Damit meine ich die, die man selbst gefunden und entwickelt hat, die einem viel bedeuten und zur Situation passen. Hinderliche Traditionen aber sind für mich die, welche man ungeprüft übernommen hat oder nicht versteht. Mit denen schleppt man Ballast falscher Entscheidungen und Erwartungen herum. Manche ostdeutschen Gemeinden haben den Punkt der Erneuerung und drastischer Entscheidungen verpasst und man beobachtet ihr Schrumpfen. Das bedrückt mich. Andere überraschen mich mit ihrem zähen Durchhaltewillen. Beides kann ähnlich aussehen, sollte aber unterschieden werden.
Dabei kann man im Osten an vielen guten Traditionen anknüpfen. Die Bedeutung kirchlicher Feiertage ist oft noch gegeben. Der Wert von Kinder- und Jugendarbeit wird sehr geschätzt. Es herrscht weniger gemeindliche Konkurrenz. Ein Verständnis für Selbstgemachtes ist grundlegend vorhanden, die Erwartungen sind oft nicht hoch.
Gleichzeitig haben wir hinderliche Traditionen und Eigenschaften: die Sehnsucht nach Leitenden, die einem das Denken abnehmen, die Angst vor Fehlern oder der Meinung Unbeteiligter, die Angst vor Fremdem.
Den Ostdeutschen Menschen verstehen
Der «Ossi» – sofern es DEN «Ossi» überhaupt gibt – möchte nicht gerne in eine Schublade gesteckt werden. Ihm ist es fremd, wenn Menschen von aussen über ihn urteilen und Schlüsse ziehen, ohne sein Leben zu kennen. Ganz deutlich wurde mir das vor wenigen Monaten, als man versuchte, die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen zu deuten und «der Ossi» über sich viele unerträgliche Dinge hören musste. Viele Einschätzungen von aussen, politisch, gesellschaftlich, aber auch christlich, sind gut – und dennoch mit einer Brille versehen, die nicht immer die gleiche ist wie die im Osten.
Hilfreich wäre hier ein von Grund auf neues Verstehen-wollen. Denn selbst wir «Ossis» sind mega unterschiedlich. Um uns zu verstehen, braucht man einen geduldigen Blick in unser persönliches Umfeld und ein offenes Ohr.
Wir «Ossis» haben viele geplatzte Hoffnungen und Träume. Wir neigen zu einer erlernten Empfänger-Mentalität und müssen manchmal aus einer gewissen Opfer-Mentalität befreit werden. Wir haben eine andere gesellschaftliche Entwicklung genommen, z. B. sind die Ideen der 68er bei uns kaum diskutiert oder gar übernommen worden. Wir haben ein Gespür für Bevormundung und Ehrlichkeit. Wir fühlen uns fremd, wenn wir übergangen werden. Dann zieht man sich mehr und mehr in sein eigenes Milieu zurück. Dort wird bestätigt, was man sowieso schon denkt. «Dort bin ich Mensch, dort darf ich sein.»
Wir haben erhofft, dass mit der neuen Freiheit der Glaube insgesamt wieder gefragter ist und dadurch Gemeinden aufblühen. Das passierte auch, aber nicht im erhofften Mass. Die Ebene war schlicht eine andere. Glaube wächst nicht in der politischen Freiheit, sondern wenn das Evangelium gebraucht, verstanden und angenommen wird.
Der Osten hat seit der Wende zu wenige eigene kirchliche Strukturen aufgebaut. Die grossen Bibelschulen und die christlichen Werke sitzen im Westen. Hier braucht es neben den Ressourcen auch ein neues Selbstbewusstsein, um das alte Gefühl «sie helfen» – «wir empfangen» zu überwinden.
Glaube aus dem Winterschlaf wecken
Wenn ich einen Wunsch an meine eigene ostdeutsch-christliche Kultur habe, dann dass wir das Wertvolle aus unserer Vergangenheit mitnehmen und die Zukunft mit einem stärkeren «Mir sin Mir»-Gefühl gestalten. Überall, wo Gemeinde selbstverständlich und selbstbewusst auftritt, hat sie eine Chance. Wo das Gemeindegeflecht schon stark war, scheint es stark geblieben zu sein, besonders zu sehen in der evangelischen Kirche oder den Brüdergemeinden.
Neulich war ich in der EFG Thierfeld im Erzgebirge, einer grossen Gemeinde auf dem Land, fromme Prägung. Nebenan in Neuwürschnitz gibt es eine Jüngerschaftsschule. Aus vergleichbaren Gemeinden kommen einige meiner Gemeindemitglieder, wir profitieren von ihrer Vorarbeit. So ein enges Geflecht hat die FeG im Osten noch nicht zu bieten. Ausser im Leipziger oder Dresdner Raum, wo mehrere Gemeinden eng kooperieren, fällt mir keine vergleichbare Gegend ein. Die meisten FeGs in Ostdeutschland leisten treue Pionierarbeit.
Ich bin dankbar für alle Gründungsinitiativen und Zuzug von Knowhow nach Ostdeutschland. Ich bin dankbar für Pastorinnen und Pastoren, die sich auf finanziell schwache Gemeinden einlassen. Ich bin dankbar, hier in der FeG Dresden «Goldenes Lamm» eine ausgeprägte Camparbeit zu erleben. Im Osten gibt es eine breite Akzeptanz für «Ferienlager», wie sie früher hiessen. Schon Margot Honecker entwendet dafür einen christlichen Gedanken: «Wer die Kinder hat, hat die Zukunft.» Ich bin dankbar für Jugendgruppen, die einander besuchen. Ich bin dankbar für Jeff Ingram und sein Team, die die FeG Dresden-Süd in den letzten 10 Jahren als beziehungsstarke Gemeinde aufgebaut haben.
Neustart durch bewusste Beziehungen
Die FeG Dresden-Süd hat sich in ihrer Gründungsphase inspirieren lassen von dem VIP-Gedanken, wie er bei der Gemeindeaktion «42 Tage – Leben für meine Freunde» kommuniziert wird: Wir brauchen Vertrauen in den Beziehungen zu Nichtchristen, damit sie uns beobachten können, uns zuhören und unseren Worten Glauben schenken. Dieses Vertrauen braucht viel Zeit und gemeinsame Beziehungsarbeit, bis es Früchte trägt.
Als Gemeinde im Aufbau war es eine strategische Entscheidung, dem ganzen Priorität zu geben. Alle paar Wochen entfällt unser Gottesdienst, damit die Christen Zeit für ihre «VIPs» haben. Was für eine etablierte Gemeinde sicher nicht einfach umzusetzen wäre, hat die FeG Dresden-Süd in ihre DNA eingepflanzt.
Hier vor Ort erlebe ich Menschen, die ihre Beziehungen sehr bewusst leben, die sich weiter aus der Wohlfühlzone herauswagen, als ich es selbst kann oder erwartet hätte. Ich erlebe Menschen, die sich in der offenen Kinder- und Jugendarbeit investieren; Menschen, die im Rotlichtmilieu den Glauben an Jesus verkünden; Menschen, die in ihrem Haus oder mit ihren Schülerinnen und Schülern eine Vertrauensbasis bauen – die Früchte sehen wir als ganze Gemeinde.
An und für sich ist das alles nicht neu, viele Gemeinden kennen solche Methoden und arbeiten danach. Mir ist aber aufgefallen, wie selbstverständlich, liebevoll und modern dieser tägliche Dienst geworden ist. Unsere Gottesdienste sind nicht niederschwellig, weil wir Wesentliches weglassen würden, sondern weil wir kleine Brücken gebaut haben, die gerade so hoch sind wie eine Türschwelle.
Glaube langfristig säen und ernten
Wenn ich auf den Osten und meine eigene Stadt schaue, wünsche ich mir mehr den Blick von Jesus. Über alle Probleme, Extreme, Desinteressen, Fehlentwicklungen und Images hinweg. «Ich habe ein grosses Volk in dieser Stadt.» (Apostelgeschichte 18,10) ist immer noch der visionäre, hoffnungsvolle, liebevolle Blick für Jesu Nachfolger.
Diesen Blick wünsche ich mir, auch wenn manches noch unsichtbar ist. Wenn wir ihn anwenden wollen, sollten wir auch hier «inkarniert leben». Gott wurde ein Mensch-so-wie-wir, also müssen wir auch wieder als Einer-von-ihnen wahrgenommen werden. Einer der bleibt, der lange Wege mitgeht, der sich in die Kultur und die Beziehungen einlebt, um einen ganzheitlichen Glauben zu prägen.
Meine drei Wünsche für den Osten
Hier sind meine drei Wünsche für den Osten:
1. Kommt den Osten besuchen, am besten drei Mal. Erst als Tourist, dann als Zuhörer, dann als Beter. Kommt mit viel Verständnis und Respekt, mit Zeit und Geduld.
2. Für meine Heimat habe ich viele Wünsche: Neue Erweckung, wahrhaftiger Glaube, Vertrauen in die Bibel, die Kraft der Vergebung, inspirierende Gottesdienste.
3. Ich wünsche mir Menschen, die sich in den Osten investieren, um etwas Bleibendes zu schaffen. So wie unser Gemeindegründer sich zurückziehen darf in dem Wissen, dass die Arbeit weitergeht. Das ist «Entwicklungs-Hilfe» im besten Sinne.
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