«Aus ganzer Kraft schwach»
«Obwohl ich zehn Stunden geschlafen hatte, fühlte ich mich immer müde, empfand Schmerzen und hatte sehr schnell keine Kraft mehr», erinnert sich Reto Kaltbrunner im Livenet-Talk. Er konnte das nicht zuordnen, war er doch bisher fit gewesen. Er hatte Vollgas gegeben, um sich im Reich Gottes zu engagieren. Seit 2018 war das nicht mehr möglich. 2020 erhielt er dann die Diagnose «Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS). «Das bedeutet, dass der Energiehaushalt des Körpers gestört ist», erklärt der 44-Jährige. «Er gibt zu viel Energie aus für Alltagsaufgaben und braucht überdurchschnittlich länger, um sich davon zu erholen.»
Turbomodus
«Ich habe die Signale meines Körpers lang nicht richtig eingeordnet», gesteht der Pastor. Als junger Gemeindegründer war er auf verschiedenen Ebenen aktiv gewesen, als Ehemann und Familienvater körperlich zwar anwesend, mental jedoch oft schon woanders. Er leitete seine Gemeinde, schrieb für das Männermagazin MOVO, zu dessen Beirat er gehört, gründete das Männerweekend «Mens World». Jahrelang als Überflieger unterwegs, hatte er nicht verstanden, wenn jemand da nicht mithalten konnte. «Wenn ich mir etwas vorgenommen habe, ziehe ich das durch.» Er hatte die Kraft dazu. Wenn eine gute Idee Gottes Sache diente, setzte er diese um. Ohne abzuwägen, was das für ihn und seine Familie bedeutet.
Akku leer
Doch schliesslich liessen sich die Schmerzen in Knie und Schienbeinen während der regelmässigen Joggingrunde nicht mehr ausblenden. Auch fehlte ihm jegliche Energie für seine Arbeit. Er vermutete, an einem Burnout erkrankt zu sein. «Das könnte man als Leistungsnachweis deuten», war ein Gedanke dazu. Aber: «Wenn ich nicht mal meinen eigenen Körper managen kann, wie sieht es dann aus mit der Leitung einer Kirche?» Diese Erkenntnis löste Scham aus und kratzte stark an seiner Identität.
Und dann kam der totale Zusammenbruch. Ein Monat lang fehlte ihm jede Kraft, er lag nur noch im Bett. Mehr als der Gang ins Bad und zum Essen waren nicht möglich. Dann rappelte er sich langsam wieder auf. Doch mehr als etwa 60 Prozent seiner bisherigen Leistung kann er seither nicht mehr erbringen. Vor einem halben Jahr stellte sich heraus, dass seine Schmerzen durch Rheuma verursacht werden. Nun können auch diese gezielt behandelt werden.
Falsche Glaubenssätze erkennen
Als Reto realisierte, dass er an einer chronischen Fehlfunktion des Immun- und Nervensystems erkrankt war, erschütterte das viele seiner Glaubenssätze. «Ich kann nicht mehr leisten – wie soll ich so in Gottes Reich noch brauchbar sein?», fragte er sich. Im Gespräch mit Gott, Bibellektüre und Mentoren ging er seinen Zweifeln nach. Er lernte, seine Krankheit als Teil eines Veränderungsprozesses zu sehen. Eins sei ihm klar geworden: «Durch meine Schwachheit lehrt mich Gott, auf seine Stärke zu sehen.» Dessen Liebe zeige sich nicht nur in Gesundheit und Wohlstand. Er erlebe ihn als starken Fels und Segensbringer mitten im Sturm.
Leid beinhaltet einen Auftrag
«Wahre Stärke entsteht aus der Beziehung mit Gott», führt Reto Kaltbrunner aus. «Alles beginnt mit der Ehrfurcht vor ihm.» Wessen Fundament das Vertrauen in Jesus sei, zeige damit echte Stärke. Seine Wahrnehmung von Stärke habe sich stark verändert. Früher habe er kein Verständnis gehabt für Menschen, die nicht wie er im Turbomodus unterwegs waren. Heute bedauert er das. Nun fühle er mit ihnen und erkenne ihre Qualitäten. Reto ist überzeugt: «Jeder Leidende hat von Gott einen Auftrag erhalten.»
Ich bin kein Opfer!
Das Wort Opfer werde meist als negativ wahrgenommen. Er interpretiert es anders: «Ich will mein Leben hingeben für den lebendigen Gott, will ein lebendiges Opfer für Jesus sein.» Reto zitiert den Evangelisten C.S. Spurgeon zum Psalm 23: «Der Weg durch das Tal des Todesschattens bleibt Gläubigen nicht erspart. Aber es ist nur der Schatten des Todes. Und der Schatten eines Hundes hat noch niemanden gebissen.»
Reto vertraut darauf, dass Jesus mit ihm durchs Tal geht. Das weckt neue Hoffnung in ihm. «Ich bin noch die gleiche Person, ich will auch noch das Gleiche wie zuvor, doch ich kann nicht mehr so viel leisten.» Er sei nun in einem anderen Tempo unterwegs. Seine Mitmenschen hätten ihn nicht abgeschrieben deswegen. So erlebe er die heilende Wirkung, die nachweislich von einem wohlwollenden Umfeld ausgehe.
Gott wird heilen
«Das Spannungsfeld zwischen dem Glauben, dass Gott mich heilt, und dem Akzeptieren, dass ich krank bin, Schmerzen habe, hebt sich in der Beziehung zu Jesus auf», führt Reto aus. Er hoffe nach wie vor auf Heilung. Dennoch sei ihm wichtiger, Jesus ganz zu vertrauen, unabhängig von den Umständen. «Er weiss, was er macht. Das lässt mich zur Ruhe kommen.» Reto ist überzeugt: «Es geht nicht darum, dass wir Heilung hier und jetzt erleben. Gott heilt immer! Spätestens im Himmel sind alle Leidenden wieder gesund.»
Ehrliche Beschreibung
Seine Erfahrungen beschreibt er im Buch «Mit ganzer Kraft schwach». Er gesteht: «Von mir aus hätte ich das Thema 'Schwäche' nicht gewählt…» Aber er möchte mit seiner Geschichte andere ermutigen: «Ihr Vertrauen in Gott soll gestärkt werden.» Er holt Menschen mit chronischen Krankheiten und ihre Bezugspersonen ab. Ehrlich beschreibt er Themen wie: «Habe ich etwas falsch gemacht?», «Ich fühle nichts von Gottes Gegenwart…», «Niemand weiss, wie es mir wirklich geht».
Er spricht auch davon, dass sich die Beziehungen zum Umfeld und seine Ehe verändert haben. Das sei für ihn sehr schwierig auszuhalten. «Meine Frau hat einen anderen Mann geheiratet als den, der ich heute bin…» Sie brauche Zeit, sich darauf einzustellen. Ebenso die vier Söhne. «Weil ich ein paar Monate zuhause ans Bett gefesselt war, verbrachte ich viel Zeit mit ihnen. Wir haben uns besser kennengelernt – das ist ein echter Vorteil!» Die Situation sei nach wie vor sehr herausfordernd. Dennoch ist sein Buch voller Ermutigung. Immer wieder betont Reto Kaltbrunner: «Vertraue auf Gott! Das letzte Wort hat weder eine Krankheit noch ein Umstand. Das letzte Wort hat Gott!»
Sehen Sie sich den Talk mit Reto Kaltbrunner an:
Zum Buch:
Aus ganzer Kraft schwach - Reto Kaltbrunner
Zur Website:
Reto Kaltbrunner
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