Schönheit umarmt den Tod

Thomas Dauerwalter verlor seine Tochter.
Im Sommer 2004 verunglückt seine 17-jährige Tochter tödlich. Ergreifend erzählt der Theologe Thomas Dauwalter, 64, was in jener Nacht und danach geschah – sichtbar und unsichtbar.

«Zeit heilt Wunden», sagt man. Bald 20 Jahre liegt das Ereignis für Thomas Dauwalter zurück. Er ist Pastor der Kirche Lindenwiese in Überlingen-Bambergen und doziert am Institut für gemeindeorientierte Weiterbildung IGW in Zürich. Noch heute droht ihm die Stimme wegzubrechen, füllen sich seine Augen, wenn er über den Tod seiner Tochter Michaela spricht. Dazu mischen sich Staunen und Dankbarkeit, ein Versöhntsein. Stärke trotz Zerbruch – wie ist das möglich?

Totgefahren und geflüchtet

Es passiert am 26. Juli 2004 um ein Uhr morgens. Michaela ist auf ihrem Roller unterwegs, als ein betrunkener Autofahrer die siebzehnjährige junge Frau frontal erfasst – und Fahrerflucht begeht. Thomas Dauwalter erinnert sich an die Überbringung der nächtlichen Hiobsbotschaft: «Die Nachricht von Michaelas Tod traf mich wie ein Hammerschlag.» Minuten später schiesst ihm das Zitat des Theologen und Autors Fritz Schwarz durch den Kopf: «Die Schönheit des christlichen Glaubens ist nicht zu beschreiben. Verrückt werden könnte ich vor Freude, verrückt werden.» Augenblicklich brennt im Seelsorger der Wunsch: «Über diese Schönheit des christlichen Glaubens würde ich eines Tages gern wieder sprechen, ohne dieses Geschehen, das Dunkle und Schwere im Leben – den Tod – auszuklammern.» Unmittelbar danach wird es dunkel, die hellen Gedanken weichen tiefem Schmerz, «als hätte man mir bei lebendigem Leib ein Organ herausgerissen».

Hiob als bester Freund

Es folgt eine Achterbahn der Gefühle. Trauer, Leid, Zweifel, Klage, Trotz herrschen vor. Ja, auch Rachegedanken steigen im gelernten Molkereimeister und Theologen auf – dem Täter und dem Boss im Himmel gegenüber. «Gott, das hast du nun davon! Ich hänge meinen Job an den Nagel. Ich werde zwar noch den Gottesdienst besuchen, aber in der letzten Reihe sitzen und einer zweitklassigen Predigt zuhören!», schildert der Ehemann und Vater von vier Töchtern zerstörerische Gedanken aus jener Zeit.

Kollegen und Vorgesetzte unterstützen und ermutigen ihn. Er solle ehrlich gegenüber Gott und Menschen sein, weiterhin predigen und als Seelsorger auf dem Bienenberg, ein Bildungszentrum in Liestal, dozieren. Aufrichtig, aber ohne sich im Schmerz zu verlieren. «Hiob wurde mein bester Freund, mein Sprachlehrer. Seine Klagen, aber auch seine Sehnsuchtsworte schmetterte ich Gott vor die Füsse», bekennt Thomas Dauwalter. Lange Spaziergänge und körperliche Arbeit tragen zur Trauerbewältigung bei.

Schönheit …

Aus den Klagen und Rachegedanken werden mit der Zeit Gebete, auch für den Täter. «Ich habe gelernt, die Rache an Gott zu delegieren», sagt der Pastor. Ein Jahr nach Michaelas Tod dann der Wendepunkt in der Geschichte: «Der zuständige Polizist kam zu mir. Ein Erlebnis an der Unfallstelle habe ihm keine Ruhe gelassen. Es sei dort sehr laut gewesen durch die vielen Fahrzeuge und Geräte. Doch kaum habe er das nach oben offene Zelt betreten, in dem Michaela lag, habe er zwei Dinge wahrgenommen: Schönheit und Ruhe. Zudem bewegte sich ‹etwas› darin auf und ab.» Puzzleteile fügen sich zusammen. «Die Schönheit des christlichen Glaubens...», dämmert es Thomas Dauwalter.

… und Ruhe

Auch für die Ruhe gibt es eine Erklärung: «In der Zeit vor ihrer Taufe, am 4. Juli 2004, drei Wochen vor dem Unglück, hat Michaela das Lied ‹Land der Ruhe› von Andrea und Albert Frey rauf- und runtergehört.» Dass sie sich als rational geprägte junge Frau zur Taufe «durchringen» konnte, ist bis heute ein grosser Trost für Thomas Dauwalter. Angesichts von Gottes Wirken, speziell am Unfallort, gerät der Vater ins Staunen – und muss sich zugleich schämen. «Michaela hatte den 21. Psalm in ihrem Zimmer aufgehängt», erklärt er. «Darin steht ‹Der Hüter Israels schläft und schlummert nicht… (Vers 4)›. Bislang hatte ich Gott vorgeworfen, in der Unglücksnacht geschlafen zu haben. Nun wurde mir bewusst, dass ich es war, der damals schlief. Gott war da.»

Tonnenlast und erlöste Tränen

Aufgrund akuter Suizidgefahr «verbüsst» der Unfallverursacher seine Strafe in einer psychiatrischen Klinik. Mit Thomas Dauwalter will er lange nicht sprechen. Der Seelsorger berichtet: «In einem Brief zu Weihnachten 2013 nannte ich das Vergehen klar und deutlich beim Namen und sprach ihm die Schuld dafür zu. Auch wollte ich wissen, wie es ihm geht, wie er mit dieser Last leben kann, schrieb, dass ich ihm gern begegnen und vergeben würde.»

Diesmal geht es schnell. Neun Jahre nach Michaelas Tod stehen sich die beiden Männer gegenüber. Dauwalter erfährt: «Ihre Frage, wie es mir geht, hat mir den Stecker gezogen. Ich habe nur noch geweint. Eigentlich hätte ich Sie schon lange fragen sollen, wie es Ihnen geht…» Thomas Dauwalter schildert das Ende der Begegnung: «Ich stellte noch einige Fragen zum Unglück, dann reichte ich ihm meine Hand und sprach ihm meine Vergebung aus. Wie ich, mit Tränen in den Augen, bedankte er sich mit den Worten: 'Herr Dauwalter, Sie haben mir eine Tonnenlast vom Herzen genommen. Ich kann wieder atmen, aufatmen!' Wow, durchfuhr es mich – da war sie wieder: 'Die Schönheit des christlichen Glaubens', die Menschen Luft und Leben schenkt.»

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Autor: Manuela Herzog
Quelle: Livenert / ERF Medien

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