Wieso Schulschwänzer plötzlich Unterricht wollten

Michelle Beer mit den Schulkindern
Die Schweizer Primarlehrerin Murielle Beer unterrichtet lernschwache Kinder in Guatemala. Im Dorf San Juan Alotenango für «Latin Link» vor Ort, eröffnet sie der nächsten Generation eine Perspektive, wie sie im Interview mit Livenet erklärt.

Murielle Beer, in welchem Umfeld leben Sie in Guatemala?
Murielle Beer:
Das Dorf hat einen aktiven Vulkan namens Fuego. Täglich hört man Donner und Explosionen, und nachts leuchtet die Lava. Brennpunkte in der Gesellschaft in Guatemala sind Armut und Bildung. Es gibt keine Ausbildung in der Unterstützung von lernschwachen Schülerinnen und Schülern. Ich arbeite mit Kindern, die besondere schulische Förderung brauchen, in der Esperanza de Vida, einer Schule für Kids aus armen Verhältnissen.

Murielle Beer, was macht das Leben und die Arbeit in Guatemala für Sie bedeutungsvoll?
Dazu möchte ich gerne eine kleine Geschichte von Nehemias erzählen. Er ist in der Gruppe der Kids, die ich zweimal die Woche schulisch unterstütze. Nehemias ist etwa acht Jahre alt und konnte seinen Namen noch nicht schreiben. Wir haben das so trainiert: Ich schrieb ihm seinen Namen an der Tafel vor, und er schrieb ihn nach. Während der Förderlektion sagte ich immer wieder mal zwischendrin: «Nehemias, schreib doch deinen Namen an die Tafel.» Eine Woche später konnte Nehemias seinen Namen sicher und korrekt schreiben. Er war so stolz. Kurz darauf erlebte ich einen wertvollen Moment mit Nehemias: Alle anderen Kinder waren schon abgeholt worden. Nur Nehemias und Catharina warteten noch im Schulzimmer mit mir, als ich bemerkte, wie Catharina ihren Namen an die Wandtafel schreiben wollte. Es gelang ihr noch nicht recht und ich fragte sie: «Catharina, willst du lernen, deinen Namen zu schreiben?» Da strahlte Nehemias und sagt zu Catharina: «Das hat sie mit mir auch gemacht. Sie hat mir beigebracht, meinen Namen zu schreiben. Und es hat funktioniert.» Das hat mich so berührt, denn ich merkte, wieviel es für diesen kleinen Jungen bedeutet, dass er erlebt hat: Ich habe das gelernt. Ich kann das jetzt. Ich kann meinen Namen schreiben! Er ist so erfüllt davon, dass er jetzt andere ermutigen kann. Diese Erfahrung ist so bedeutungsvoll, weil sie ein Schlüssel sein kann für weitere Lernschritte von Nehemias – ein Schlüssel dazu, was er sich selbst zutraut. Es hat für mich grosse Bedeutung, wenn sich bei den Kindern, mit denen ich arbeite, Potential entfaltet und sie erfahren, dass sie lernen können. Ich bin dankbar dafür, Teil von diesem zentralen Erleben der Kinder sein zu dürfen. Ihr Strahlen bedeutet mir viel.

Was hat sich für Sie in der Zeit in Guatemala verändert?
Wenn man in einer fremden Umgebung lebt, dann werden kleine Gesten bedeutungsvoller. Gespräche werden bedeutungsvoller und Freundschaften, die entstehen, schätzt man noch viel mehr. Vieles hat in dieser Kultur im Alltag eine andere Bedeutung, als ich es von der Schweiz kenne. Essen hat hier eine mega Bedeutung. Wenn man sich trifft, muss es einfach etwas zu essen geben. Deshalb ist es für mich ein sehr bedeutungsvoller, berührender Moment, wenn eine Freundin vorbeikommt und mir Essen bringt.

Haben Sie dazu etwas Besonderes erlebt?
Mit der grossen Bedeutung vom Essen hier in Guatemala hat auch eine weitere bedeutsame Geschichte zu tun, die ich erlebt habe: Ich gehe oft Basketball spielen im Dorf. Jeder kann mitspielen, und viele Teenies sind dabei. Ein paar Jungs fielen mir auf mit ihren Plastikcrocs. Sie hängen immer auf der Strasse rum und gehen nicht zur Schule. Zwei von den Jungs wollten beim Basketballspielen im Team mit mir sein, aber sie konnten nicht gut spielen. Zum Glück kam noch einer, der gut spielen kann, dazu. Ich habe die Jungs eingeladen in unser Projekt und wir haben fest abgemacht, dass sie in der nächsten Woche bei unserer Schule vorbeikommen. Ich habe gebetet, dass sie wirklich kommen, aber sie haben mich versetzt. Ich dachte: Wenn sie nicht wollen, dann wollen sie nicht. Doch ich habe sie wieder getroffen beim Basketballspielen oder auf der Strasse. Wir haben wieder abgemacht – sie haben mich wieder versetzt. Und wieder traf ich sie danach beim Basketballspielen. Immer, wenn sie mich versetzten, sah ich sie nachher auf dem Sportplatz oder irgendwo im Dorf. Das war für mich wie ein Zeichen von Gott, dass ich nicht aufgeben soll mit den Jungs.

Was ist danach geschehen?
Plötzlich kam mir die Idee: Essen hat hier so eine grosse Bedeutung. Du musst das mit Essen machen, Murielle. Gesagt getan. Wir verabredeten uns bei einer Bäckerei und ich kaufte eine Torte. Während wir die Torte gemeinsam assen, tauchte ein Typ auf, so eine Art Kleindieb, vor dem mich die Jungs warnten. Sie hätten mich absolut verteidigt. Wir wechselten den Ort und gingen zu meiner Gastfamilie. Dort machten wir noch ein Lernspiel zusammen. Am nächsten Tag kamen die Jungs alle ins Projekt. Jetzt haben wir eine Abmachung: Wenn sie 40 Mal zum Lernprogramm kommen, dann lade ich sie ins Restaurant ein. Für mich haben diese Jungs grosse Bedeutung. Mein Herz schlägt für die Geringsten. Jesus hat alles gegeben für jeden und genau für die, die in der Gesellschaft nicht als wertvoll angesehen sind. Die haben Bedeutung bei Jesus.

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Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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