Gnade macht den Menschen nicht klein
Wer in der Bibel liest, findet das Wort Gnade an vielen Stellen. Es ist vielleicht das am meisten überlesene und zugleich am wenigsten verstandene Wort der Bibel.
Bei dem Begriff Gnade sieht man einen elenden Menschen vor sich, vielleicht in lumpigen Kleidern, der sich vor einem Herrscher niederwirft und ihn verzweifelt um Erbarmen anfleht. Er bittet um sein Leben. Der Herrscher zeigt sich grossmütig und bestraft das Häufchen Elend, dass da vor ihm kniet, nicht. Ist das Gnade? Ja, das ist Gnade. Doch im Verständnis des christlichen Glaubens ist Gnade viel mehr.
Gnade contra Leistung
Ist Gnade nicht der Begriff, der dem Menschen klarmachen soll, dass er sich Gottes Erbarmen nicht erarbeiten oder irgendwie verdienen kann, dass er Gott braucht und ohne ihn nichts ist? Ja, das ist Gnade. Das ist es, was Martin Luther beim Studium des Römerbriefes nicht nur theoretisch wichtig wurde, sondern was er persönlich erlebte und was sein Gottesbild und seinen Glauben völlig veränderte.
Dazu gehört auch die Erklärung von Gnade als ein unverdientes Geschenk. Etwas, das Gott für jeden Menschen bereithält und dass er nur annehmen muss.
Gnade – eine unglaubliche Kraft!
All das Gesagte über Gnade ist richtig, aber es lenkt den Blick zumeist darauf, wie der Mensch (zum ersten Mal) zu Gott findet. Gnade aber ist etwas, was erst in der Beziehung zu Gott richtig zum Tragen kommt.
Mit Gnade ist nach meinem Verständnis daher viel mehr gemeint: Gnade ist eine explosive Kraft! Sie ist der entscheidende Schlüssel, um Gott und das, was er für jeden Menschen bereithält, zu erfahren. Gnade ist eine Macht, die den Menschen in eine ganz neue und nicht für möglich gehaltene Freiheit führt und ihm eine wunderbare Würde verleiht. Gnade macht den Menschen nicht klein, sondern gross. Und sie revolutioniert das Verhältnis des Menschen zu Gott, zu sich und zu den anderen.
«Durch die Gnade…»
Immer wieder schreibt der Lehrer Paulus in seinen Briefen von der Gnade und gebraucht häufig die Formulierung «durch die Gnade». Das zeigt: Gnade ist etwas, was viele Dinge im Leben eines Christen in Gang setzt.
Paulus machte sich viele Gedanken über Gnade. An einer Stelle schreibt er über seine persönliche Situation und spricht von einem «Leiden», das ihn sehr belastet. Er schreibt: «…ist mir ein Leiden auferlegt worden, bei dem mein Körper wie von einem Stachel durchbohrt wird: Einem Engel des Satans wurde erlaubt, mich mit Fäusten zu schlagen…» (2. Korintherbrief, Kapitel 12, Vers 7)
Es wurde viel darüber geforscht und spekuliert, was Paulus mit diesem quälenden Leiden und diesem Stachel meinte: Vielleicht eine körperliche oder psychische Krankheit? War es eine charakterliche Schwäche? War es ein bestimmtes Fehlverhalten oder eine Sünde?
«Meine Gnade ist alles, was du brauchst»
In jedem Fall war es etwas, was ihm immer und immer wieder seine Grenzen und seine Schwachheit vor Augen hielt. Paulus litt darunter und flehte Gott an, dass es mit diesem Leiden, mit diesem Stachel endlich ein Ende haben möge. Doch Gottes Antwort darauf lautete: «Meine Gnade ist alles, was du brauchst, denn meine Kraft kommt gerade in der Schwachheit zur vollen Auswirkung.»
Was sagt dieser Vers? Gott sagt: «Du brauchst in deinem Leben nichts anders als mich und mein Wohlwollen! Schaue nicht darauf, wie es in deinem Leben läuft, wie du dastehst, was andere über dich denken, ob es vorangeht oder ob du in deiner Beziehung zu mir wächst. Schaue allein auf mich. Das ist alles was zählt! Mache es zu deiner Leitlinie, dass nichts anderes von Bedeutung ist, als ich selbst, meine Liebe und meine Gnade für dich!»
Christen lassen sich immer wieder ausbremsen
Gottes Antwort auf Paulus hat aber auch noch einen anderen Aspekt: Sie zeigt, dass Gottes Wirken in und durch einen Menschen nicht vom Zustand dieses Menschen abhängig ist. Gott wartet nicht darauf, bis wir endlich eine bestimmte Stufe erklommen haben! Also bis wir soweit sind, dass er mit uns etwas anfangen kann. – Das ist aber leider eine weitverbreitete Vorstellung unter Christen. Sie wird selten offen ausgesprochen, aber bestimmt das Denken und Fühlen vieler Christen und bremst sie völlig aus, wenn es darum geht, dass sie sich von Gott gebrauchen lassen.
Demgegenüber gilt Gottes «Ja» zu uns grundsätzlich und immer. Gottes Wirken zu erfahren ist nicht die Folge eines erreichten Zustandes, auch nicht den an Liebe zu den Menschen oder zu Gott, sondern davon, dass Gott gerne in und durch uns wirkt.
Schwachheit – Gnade – Kraft
Paulus beschreibt hier ein Dreieck von Schwachheit, Gnade und Kraft. In unseren Augen scheint die Schwachheit das zu sein, was Gottes Wirken im Wege steht. Dabei ist diese Schwachheit – durch die Gnade – die offene Tür für Gott. Und durch diese Tür geht er gerne, wenn wir das zulassen.
Diese Haltung zeigte Gott auch gegenüber seinem Sohn Jesus, als er zu ihm sagte: «Du bist mein lieber Sohn, an dem ich mich von Herzen freue.» (Markusevangelium, Kapitel 1, Vers 11) Das ist ein Wort der Gnade, das für jeden Menschen gilt, der sich Gott anvertraut! Und daraus erwächst eine unglaublich verändernde Kraft!
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