«Wir verschenken hier kein billiges Sakrament»
Die Marienkirche am Alexanderplatz. Draussen rauscht die S-Bahn vorbei, drinnen herrscht der übliche Durchgangsverkehr. Touristen treten durch die schweren Türen des altehrwürdigen Bauwerks, machen Fotos, stehen vor den Gemälden, die biblische Geschichten zeigen. Doch vorne im Chorraum der Kirche, gleich hinter der Kanzel, geht etwas ganz anderes vor sich. Etwas, das man hier so an einem Mittwochvormittag nicht erwarten würde: Eine Gruppe Erwachsener steht um das Taufbecken, mit dabei sind auch drei Geistliche im Talar. Die Stimmung ist besinnlich und gelöst zugleich. Denn vor wenigen Minuten haben sich hier sechs Frauen und Männer taufen lassen. Ganz spontan. Das Konzept heisst Pop-up-Taufe. Die Kirche St. Marien bietet das seit Anfang des Jahres einmal im Monat für eine Stunde an – und ist in diesem Zeitraum immer ausgebucht. Ein heiliger Akt, mitten im Grossstadttrubel?
Frau Zisselsberger, Sie und Ihre Kollegen haben heute sechs Menschen getauft. An einem ganz normalen Mittwoch mitten in der Berliner Marienkirche auf dem Alexanderplatz unweit des Fernsehturms. Wie war das für Sie als Pfarrerin?
Corinna Zisselsberger: Hochemotional. Spirituell. Berührend. Das sind Taufen immer, sie sind ein Ritual, das seit 2'000 Jahren Kraft hat. Hier in dieser Kirche ist das Ganze zusätzlich total verdichtet, weil die Leute spontan kommen, wir sie innerhalb von vielleicht 30 Minuten kennenlernen und dann gleich taufen. Vorab führen wir ein Taufgespräch, entweder telefonisch oder direkt vorher hier vor Ort. Die Taufzeremonie selbst mit Liedern, Gebet und Taufversen dauert etwa 35 Minuten. Trotz dieser Spontanität erlebe ich immer wieder, wie viel Tiefe in dieser kurzen Zeit entsteht.
In der Kirche herrscht reger Durchgangsverkehr, Touristen machen Fotos, es ist nicht unbedingt leise. Stört das nicht?
Mich nicht. Wir bekommen es vorne im Chorraum erstens nicht so mit und zweitens kennen wir es auch aus den Sonntagsgottesdiensten. Aber selbst wenn, das gehört auch zu diesem Ort und die Menschen, die sich hier taufen lassen, suchen sich den ja bewusst aus. Neben der Tatsache, dass es sich hier um einen touristischen Ort handelt, ist dies die älteste Kirche Berlins, 750 Jahre alt, ein durchbeteter Ort, wie ich gerne sage.
Seit diesem Jahr gibt es Pop-up-Taufen. Eine besonders niederschwellige Art der Taufe, es ist kein Taufkurs nötig, nur ein kurzes Vorgespräch. Ist das eine neue Art Mitgliederrekrutierung für eine schrumpfende Kirche?
Klar ist es Mitgliederrekrutierung. Aber das macht die Taufe ja nicht weniger wertvoll. Wir verschenken hier kein billiges Sakrament. Die Menschen kommen mit einem ernsthaften Wunsch und wir erfüllen den. Wir wissen auch aus den Umfragen, dass Menschen mehrheitlich einen echten persönlichen Glauben haben und spirituelle Wege suchen, aber eben nicht in den institutionellen Formen unterwegs sind. Da ist es doch positiv, wenn wir uns den Menschen und ihrer Lebenswirklichkeit zuwenden, anstatt einfach alles so zu machen, wie wir es immer gemacht haben. Das ist im Sinne von Jesus.
Klingt nach Kritik an der traditionellen Kirche…
Die Kirche ist meiner Meinung nach oft zu verkopft und starr. Wir sprechen ein bestimmtes, bildungsbürgerliches Milieu an. Und darin sind wir gut. Aber zugleich sind wir auch verengt auf dieses Publikum. Die Zeiten zwingen uns aber, das System progressiv umzubauen. Ich denke etwa an neue Mitgliedschaftsmodelle. Oder eben daran, Möglichkeiten zu schaffen, um neue Erfahrungen mit alten Ritualen zu machen. Bei der Taufe, etwa.
Das Konzept geht auf: Die letzten beiden Termine der Pop-Up-Taufen waren voll belegt. Was sind das für Menschen, die Sie da taufen?
Manche möchten nicht in ihrer eigenen Gemeinde getauft werden, weil sie es einschüchternd finden. Oder suchen eine Form, die nicht ein grosser Sonntagsgottesdienst ist. Viele kommen allein – es gibt da eine Scheu vor Familienfeiern oder ähnlichem. Andere haben ihre Taufe wegen Corona aufgeschoben. Wieder andere haben schlechte Erfahrungen mit Kirche gemacht. Es gibt auch die, die ihre Entscheidung seit vielen Jahren reifen haben lassen und nun das Gefühl haben: Es ist an der Zeit. Gelegentlich spielen auch formale Gründe eine Rolle: Sie wollen Taufpate oder -patin für ein Kind sein und müssen dafür Mitglied werden, zum Beispiel.
Schlägt Ihnen für diese spontane Taufe auch Kritik entgegen?
Die Kritik lautet oft: Die Menschen wissen doch gar nicht, worauf sie sich einlassen. Diese Erfahrung haben wir hier aber noch nicht gemacht. Die meisten, die sich hier taufen lassen, haben sich das im Vorfeld lange überlegt oder schon lange mit dem Gedanken gespielt. Ihnen fehlte dann einfach ein bestimmter Impuls und den geben wir mit der Möglichkeit der Pop-up-Taufe. Andere, auch aus dem ökumenischen Umfeld, kritisieren, wir würden dem Ritual damit die Bedeutung nehmen. Das entspricht aber nicht meiner Erfahrung. Ich habe nicht das Gefühl, dass etwas verloren geht. Die Kraft der Taufe entfaltet sich auch, wenn wir das hier mittags spontan machen. Und es ist ein Angebot unter vielen. Wir machen weiterhin auch klassische Taufkurse und die Taufe im Sonntagsgottesdienst.
Gäbe es einen Grund, weshalb Sie jemanden ablehnen würden?
Es gibt formale Gründe: Ich hatte letztens eine Anfrage von jemandem, der schon getauft war und sich nochmal taufen lassen wollte. Das geht nicht, konnte aber in seinem Fall schnell aufgeklärt werden und er ist nun wiedereingetreten. Oder wenn jemand sagt, er will nicht Mitglied der Kirche werden und Kirchensteuern zahlen, dann kann ich ihn ebenfalls nicht taufen. Wenn jemand käme, der zum Beispiel psychotisch ist oder anders belastet, dann könnte es sein, dass ich eine Grenze ziehe.
Aber das entscheiden wir dann im Einzelfall und ich denke, da haben wir als Pfarrpersonen auch einen guten Blick für. Grundsätzlich sollte jeder, der sich taufen lassen will, auch getauft werden können. Falls die Entwicklung so weitergeht, könnte es passieren, dass wir irgendwann zu viele Täuflinge für unser Mittagsformat haben. Das würde ich aber eher als Luxusproblem in der Kirche ansehen und ich lade die Leute dann einfach zur nächsten Taufe ein.
Manche Freikirchen haben sich schon lange dazu entschieden, Traditionen über Bord zu werfen. Da gibt es Popmusik im Gottesdienst, Taufen im Planschbecken, moderne Ansprache. Ist Ihnen das ein Vorbild?
Für St. Marien funktioniert eine klassische Form am besten. Ich komme aus Baden-Württemberg und bin daher ganz gut mit dem Pietismus vertraut. Manche Dinge, die ich dort als Jugendliche kennengelernt habe, finde ich gut, aber manche lehne ich auch ab. Grosse Bekehrungsveranstaltungen erscheinen mir heute schräg. Der Moralismus. Ich hatte dort immer so ein Gefühl des Drucks, der auf mich ausgeübt wird. Und das möchte ich für meine Kirche nicht. Ich wünsche mir, dass Menschen hier Freiheit erfahren und so kommen können, wie sie sind.
Wie sieht die Zukunft der Kirche aus?
Eines ist sicher: Wir müssen ausprobieren, experimentieren, ohne zu wissen, wo wir am Ende rauskommen. Ich wünsche mir, dass ein Ort wie St. Marien bestehen bleibt. Aber wir werden nicht alle kirchlichen Orte und Gebäude erhalten. Darauf müssen wir uns gefasst machen. Die persönliche Beziehung spielt dem gegenüber eine viel grössere Rolle und wird es auch in Zukunft. Ich bin überzeugt: Die Botschaft der Liebe Gottes gibt es weiter und sie wird weitergetragen werden.
Dieser Artikel erschien zuerst im PRO Medienmagazin
Zum Thema:
Nacht des Glaubens: Ein Festival auch für Zweifler
Einspruch zurückgewiesen: Weiterhin keine Taufen im Genfersee
Zurück zu den Wurzeln: Spontantaufe – mehr als ein Trend