Hoffnungsfilme für die Versöhnung
Mit 70 anderen Kindern sitzt Pappy Orion Rwizibuka im Klassenraum, als sie Geräusche hören. Zunächst denken sie, dass es sich um einen Platzregen handelt, der auf das Schuldach niederprasselt. Aber der Regen entpuppt sich als Kugelhagel. Ihr Lehrer fordert geistesgegenwärtig alle auf zu fliehen. Aber nicht jeder entkommt den Gewehrsalven. Pappys bester Freund wird von einer der Kugeln getroffen und stirbt. Wem die Flucht gelingt, der versteckt sich im Wald und kehrt dann später wieder zu seiner Familie zurück. Für den Zehnjährigen ändert sich in diesem Moment alles. Ab jetzt beherrschen Chaos und Verwüstung das Land. Selbst im eigenen Dorf ist niemand mehr sicher.
Unbeschwerte Kindheit
Bis zum Kriegsbeginn 1996 erlebt Rwizibuka eine unbeschwerte, idyllische Kindheit. Die Augen des heute 37-Jährigen glänzen, wenn er von der fantastischen Natur und dem familiären Zusammenhalt in seiner Heimat erzählt. Seine Familie gehört damals in dem kleinen, katholisch geprägten Dorf mit seinen 100 Häusern zur Oberschicht. Als Landbesitzer kann der Vater die zwölfköpfige Familie gut ernähren. Auch der christliche Glaube spielt in der Grossfamilie eine tragende Rolle. Schon vor der Schule schicken ihn seine Eltern zum Morgengebet: «Ich war Ministrant in unserer Kirche. In der Familie wurde viel gesungen und gebetet», erzählt er. Wie wertvoll diese Lieder und Gebete für ihn noch einmal werden würden, ahnt der kleine Junge damals noch nicht.
Der Völkermord im Nachbarland Ruanda sorgt 1994 für erste Risse in dem heilen Weltbild. Die überquellenden Flüchtlingslager und die Nachrichten im Radio machen das Elend greifbar. Die Situation der Flüchtlinge und die daraus resultierenden Konflikte sind mit dafür verantwortlich, dass die Lage auch im Kongo eskaliert. Rwizibuka ist der älteste Sohn der Familie. Falls seinem Vater im Krieg etwas passieren sollte, müsste er die Verantwortung für die Familie übernehmen. Und das, obwohl er selbst noch ein Kind ist. Aber wie verarbeitet ein Kind solche Erlebnisse? «Einerseits hatte ich Angst, über meine Erlebnisse zu sprechen, andererseits war es für uns als Kinder auch spannend, wenn irgendwo Schüsse fielen.»
Als Menschen gesehen
Der Krieg belastet die Familie auch finanziell. Ihre Felder können sie nicht bewirtschaften, das Vieh haben die Rebellen entwendet. Rwizibuka muss mit eigenen Augen ansehen, wie die Schwester vergewaltigt wird. Sein Vater entkommt durch das diplomatische Geschick seines Onkels nur knapp der Hinrichtung. Auch sein eigenes Leben ist in grosser Gefahr: «Es war nur noch eine Frage der Zeit.»
Damit er nicht als Kindersoldat rekrutiert wird, schickt der Vater ihn auf die Flucht. Mit dabei hat er nur eine Notration Geld. Ganz auf sich allein gestellt, startet er die Reise ins Ungewisse. Die Angst ist sein ständiger Begleiter über zwei Jahre. Wird er seine Familie lebend wieder sehen? Welche Gefahren lauern auf der Reise, die ihn Tausende Kilometer nach Süden quer durch Sambia und Simbabwe führt? Südafrika scheint das verheissene Land zu sein, in dem es am ehesten Arbeit geben könnte. Aber dort angekommen, geht es auch nur ums Überleben. Der Teenager schmuggelt Drogen und erlebt als Strassenkind die Kriminalität der Grossstadt. Er landet sogar für kurze Zeit im Gefängnis und fragt nach dem Wert seines eigenen Lebens.
Er begegnet Mitarbeitern der christlichen Organisation «Jugend mit einer Mission». Die Grosszügigkeit und Herzlichkeit, die er bei ihnen erlebt, verändern sein Leben entscheidend – und er lässt sich taufen. «Die Menschen haben nicht gepredigt, sondern nur mit mir gesprochen. Ich wurde als Mensch und nicht als Strassenkind behandelt», beschreibt er seine Gefühle.
Botschafter der Hoffnung
Die Themen Vergebung und Veränderung prägen sein weiteres Leben. Ihm wird bewusst, dass er anderen Menschen eine Perspektive geben möchte, die sich in einer persönlichen Sackgasse befinden. In ihm reift der Entschluss, mit Filmen, Artikeln und Bildern Geschichten zu erzählen, die Hoffnung machen. Gemeinsam mit anderen Ehrenamtlichen gründet er die Hilfsorganisation Focus Congo, die sich für Frieden in seiner Heimat einsetzt.
Der leidenschaftliche Filmemacher, der jetzt mit seiner Frau Svenja und seinem einjährigen Sohn in Augsburg lebt, schult mithilfe eines Netzwerkes vor Ort Menschen im Kongo, wie sie ihre eigenen positiven Geschichten erzählen können: durch Bilder, Filme und die Arbeit in den sozialen Netzwerken. Ganz uneitel fügt er hinzu, dass es einige dieser Beiträge in überregionale Medien geschafft haben und so Botschafter der Hoffnung sein konnten. Vor Kurzem konnte er den früheren belgischen Nationalspieler und gebürtigen Kongolesen Jason Denayer für eines seiner Projekte gewinnen. Das schafft natürlich Reichweite. Neben der Friedensarbeit in und durch die Medien geht es aber auch darum, Kinder bei ihrer Schulbildung zu unterstützen sowie Waisenhäuser und verschiedene medizinische Projekte zu finanzieren. In Deutschland steht hinter der Arbeit ein Team von fünf bis sechs Ehrenamtlichen, im Kongo noch einmal rund zehn Personen.
Rwizibuka freut sich, dass sein Einsatz Kreise zieht – und das alles auf ehrenamtlicher Basis: «Ich kann der Gewalt kein Ende setzen, aber ich kann Menschen aufzeigen, dass eine andere Zukunft für sie möglich ist.» Sein neu gewonnener Glaube hilft ihm dabei und ist stärker als die Zweifel und die Frage nach dem Warum. Denn auch die gibt es: Bis heute ist eine seiner Schwestern spurlos verschwunden. Es gibt kaum Hoffnung, dass er sie jemals wieder lebend sehen wird. Bis heute beschäftigen ihn die damaligen Ereignisse. Deswegen braucht er die Gemeinschaft mit anderen, um zu überleben und das zu verarbeiten: «I am a peace lover!», sagt er mit einem Schmunzeln, ein Friedens-Liebhaber. Sein Land befindet sich seit Jahrzehnten im Kriegszustand. Vor allem die Gewalt durch verschiedene Milizen und Terrorgruppen hat den Osten des Landes bis heute im Griff.
Im Januar entdeckten UN-Truppen Massengräber mit 49 Leichen. Bei mehreren Angriffen auf Dörfer und einem islamistischen Anschlag auf eine Pfingstkirche kamen Anfang dieses Jahres Dutzende Menschen ums Leben. Trotzdem hat Rwizibuka die Hoffnung nicht aufgegeben. Er ist froh, dass es Menschen wie den Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege gibt, die die Situation im Kongo öffentlich thematisieren. Und er selbst möchte auch einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, die Gewaltspirale mit Versöhnung und Liebe zu unterbrechen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin
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