Von der Todessehnsucht zur Lebensfreude
Mery, du bist in La Paz, in Bolivien, geboren. Fühlst du dich in Bremgarten zuhause?
Ja. Mit der Reuss, der Altstadt und den Naturschutzgebieten bietet Bremgarten eine fantastische Lebensqualität. Und wenn ich hier spaziere, begegne ich oft Bekannten aus den Anden: Alpakas, auf einer Wiese.
Erzähle uns von deiner Kindheit!
Ich bin tatsächlich zwischen Alpakas und Kondoren geboren, auf über 4’000 m. ü. M. Meine Eltern zogen als Handelsreisende umher. Meine Grossmutter, bei der ich die ersten Jahre verbrachte, starb bei einem Autounfall, als ich vier war. Später brachte man mich vom Land in die Millionenstadt El Alto. Schon als Kind fehlte mir die Lebensfreude. Ich sehnte ich mich danach, tot zu sein, versuchte mehrmals, mich umzubringen.
Deine Eltern kamen gewaltsam ums Leben. Welches sind die Hintergründe und wie gingst du mit diesem Verlust um?
Mein Vater war Präsident der Geldwechsler. Mit diesem Beruf konnte man viel Geld verdienen, lebte aber gefährlich. Mein Vater wurde zweimal überfallen. Beim dritten Mal verlief alles anders. Eine Gaunerbande kidnappte meine Eltern. Zwei Monate blieben beide spurlos verschwunden. Ich war 19 Jahre alt und studierte Linguistik an der Universität in La Paz. Aber jetzt konnte ich keine Vokabeln mehr pauken. Mein Kopf war ein Karussell: Ich fragte mich: Warum? Wo sind meine Eltern? Ich verzweifelte immer mehr. So sehr, dass ich mich an Gott wandte. Ich betete: «Gib mir meine Eltern zurück – tot oder lebendig! Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus.» Eine Stunde später hörte ich im Radio eines Busses, das vermisste Ehepaar sei gefunden worden. Gott hatte mein Gebet ernstgenommen. Leider waren meine Eltern tot. Qualvolle Monate begannen für uns Geschwister. Als ob der Schmerz nicht genug wäre, hatten wir auch noch unzählige Kämpfe vor Gericht und mit den Behörden zu überstehen.
Und dann hast Du gepackt und bist ins Flugzeug gestiegen?
Es ging nicht so schnell. Ich sass geistig abwesend in den Vorlesungen an der Universität. Dann schrie ich erneut zu Gott: «Nimm mich weg von hier – und ich werde dir dienen.» Kurz darauf erhielt ich einen Anruf aus der Schweiz. «Mery, besuche mich! Ich bezahle dir das Flugticket», bat mich eine Tante. Ich packte die Koffer, reiste zuerst zu Verwandten nach Peru und Chile – und schliesslich nach Zürich. Kaum angekommen, lud mich meine Tante in einen Gottesdienst ein. Der Pastor beendete die Predigt mit einem Aufruf: «Willst du dein Leben Jesus anvertrauen?» Da machte ich mein Versprechen wahr. Als ich ein Gebet sprach, spürte ich, wie sich in meinem Körper Krämpfe lösten.
Ende gut, alles gut?
Das wäre zu einfach. Meine Tante führte mich auf den Üetliberg und wollte mir die Schönheiten Zürichs zeigen. Aber ich sah nur grau. Denn tief in mir klafften Wunden, die nicht geheilt waren. Nach einigen Wochen hörte ich in der Kirche, dass man seinen Feinden vergeben sollte. Mir standen die Nackenhaare zu Berge: Wie bitte, Mördern vergeben? Da erklärte die Leiterin, vergeben sei keine Gefühlssache sei, sondern eine Entscheidung. Fast mechanisch habe ich den Mördern meiner Eltern dann Vergebung zugesprochen. Das setzte in mir den Heilungsprozess in Gang. Jesus hat Vergebung gepredigt. Im Vaterunser-Gebet heisst es: «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben.»
Was hat dich in der Schweiz gehalten?
Mein heutiger Ehemann. Diesem Glück gingen jedoch heftige Panikattacken voraus. Von klein auf hatte ich miterlebt, wie mein Vater meine Mutter schlug. Ich hatte mir geschworen, nie zu heiraten. Ich wollte kein Opfer sein, das den Kindern zuliebe seinen Mann erträgt. Wieder einmal wollte ich fliehen. Schliesslich erkannte ich die Wurzeln meiner Ängste. Das hat mich befreit.
Inzwischen bist du seit 20 Jahren verheiratet, hast zwei Kinder, einen Hund und die Spanischschule Hablahoy. Gibst du die Geheimnisse weiter, die dir aus der Krise herausgeholfen haben?
Soweit es mir möglich ist, ja. In den Gefängnissen Lenzburg und Bostadel habe ich an Projekten der Restaurativen Justiz teilgenommen. Dabei wird versucht, zwischen Opfern und Tätern einen Dialog in Gang zu bringen. Oft erkennen Täter die Tragweite ihres Verbrechens erst, wenn sie den Opfern zuhören. Für diese tiefe Auseinandersetzung braucht es Bereitschaft auf beiden Seiten.
Jetzt startest du auch ein Life-Seminar. Worum geht es dabei?
Mein Ehemann und ich treffen uns regelmässig mit Freunden, um uns über den Alltag auszutauschen, gemeinsam in der Bibel zu lesen und zu beten. Bereits zweimal haben wir mit dieser Gruppe ein Life-Seminar für am Glauben interessierte Menschen organisiert. Im Life-Seminar diskutieren wir die grossen Fragen des Lebens: Wie können wir glücklich werden? Warum lässt Gott das zu? Was ist der Sinn des Lebens? Von Herzen wünsche ich mir, dass dadurch alle Teilnehmenden einen Schritt näher zu Gott kommen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Hope-Regiozeitung
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